Kunst, Erziehung und Bildung

Das Ganzheitliche in der Kunst

Im Prozess der Weltaneignung versucht der Künstler für alles, was er vorfindet und wahrnimmt, was er denkt, liebt und glaubt, eine passende Maßeinheit zu finden, um dann diese in die Sprache der jeweiligen Kunstgattung zu übersetzen. Um ein Kunstwerk zu schaffen, muss der Künstler in drei bestimmten Eigenschaften der Welt kundig sein. Als Erstes muss man sich mit dem Aspekt Raum auseinandergesetzt haben. Als Zweites tief in die Problematik der Zeitvermessung eindringen,  und als Drittes muss man die Bedeutung von allem, was in der Welt ist, zu verstehen lernen.
Die Tätigkeit des Künstlers kann als Vermessung der Welt, und ein Kunstwerk als sinnvolle Zusammenwirkung von diesen Vermessungsergebnissen bezeichnet werden, als eine Schöpfung, die den Sinn und die Architektur der Welt zugänglich, erlebbar und verständlicher macht.

Mit anderen Worten, der Künstler muss den Raum darstellen können, er muss es wissen, den Raum mit der Dimension der Zeit zu verknüpfen, und er muss den Dingen eine Bedeutung zuweisen. Explizit auf das Bild bezogen, kann man auch über drei Perspektiven sprechen: die Perspektive des Raumes, der Zeit und die Bedeutungsperspektive. Ein Bild ist ein Konstrukt, ein Zusammenhang von Raum, Zeit und Bedeutung. Dieses Konstrukt, dieser Zusammenhang macht das Ganzheitliche der Kunst aus.

 

Kunsterlebnis und Kunstunterricht: Zwei komplementäre Richtungen der kulturellen Bildung und Erziehung

Eine der wichtigsten Aufgaben der Eltern, der Erzieher und Lehrer ist es, den Kindern und Jugendlichen vielfältige Kunsterlebnisse zu ermöglichen. Angefangen mit Vorlesen von Märchen bis hin zu regelmäßigen Museums-, Konzert- und Theaterbesuchen. Auch Besuchen von alten und neuen Sakralorten ist von großer Bedeutung, weil diese durch ihre Stimmung und gepflegte Atmosphäre uns auf eine ganz besondere Art mit den Ursprüngen der eigenen und der Schönheit der anderen Kulturen verbinden.

Kunstunterricht, egal ob im Kindergarten, in der Schule, freien Einrichtungen oder zu Hause hat die Aufgabe, die Kunst von der Seite der Übung, des Schaffens, des Selbstausdrucks bekannt zu machen und zu praktizieren. Sich selbst als kreatives und schöpferisches Wesen zu entdecken bzw. zu erfahren und sich weiter zu entwickeln. Es ist wichtig, dass alle Einrichtungen, die Kulturbildung und Kunsterziehung betreiben, nach einem ähnlichen Ansatz und Grundstruktur vorgehen. Oben haben wir das Bild als Konstrukt aus Raum, Zeit und Bedeutung definiert. Es ist einleuchtend, dass diese drei Aspekte der Kunst diesen Ansatz und Grundstruktur des Kunstunterrichts bilden und als drei Richtungen in der Aufgabenstellung dienen können.

In unserer Malschule arbeiten wir seit 2003 mit einem vierjährigen Programm, dem diese drei Aspekte zu Grunde liegen. Das Programm hat sich als erfolgreich erwiesen. Im Jahr 2019 haben wir diese Grundstruktur auf das Gesamtangebot der Malschule incl. Erwachsenenbildung übertragen. Im ersten Jahr des Programms wird alles in der Welt nach dessen Bedeutung hinterfragt. Es geschieht durch Thematisierung verschiedener Arten von Verbindungen, die in der Natur und Kultur vorkommen. Das zweite Jahr ist der Erkundung des Raumes gewidmet, im dritten beschäftigen wir uns mit der Zeit und Rhythmus und im vierten stehen das Bild und der individuelle Ausdruck im Vordergrund. Solch ein Vorgang bietet ebenfalls gute Voraussetzungen dafür, den Kunstunterricht mit Inhalten anderer Schulfächer zu verbinden. Wir arbeiten gerade an einem Workshopsprogramm für Jugendliche und Kinder, das diese Verbindungen thematisiert und in dem das Zeichnen als Mittel dafür verwendet wird, sich mit Inhalten der Naturwissenschaften und Literatur mehr anschaulich und individuell auseinanderzusetzen.

Der Wahrnehmungsprozess hört bekanntlich nicht mit dem Ende des Kunstereignisses sowie nicht mit der Fertigstellung einer Zeichnung, einer Skulptur usw. auf. Es hallt nach, es beschäftigt einen innerlich weiter. Fragen, Unzufriedenheit, Freude, Lust, Ideen, Erinnerungen gehen durch den Kopf und durch das Gemüt. Die Bedeutung von diesem anschließenden Stadium kann man nicht überbewerten. Ohne dieses kommt man nicht richtig weiter. Deshalb ist es nötig, extra Zeit und Raum einzuplanen sowie Formen dafür zu entwickeln, es von außen zu unterstützen. Kunstgeschichte und Kunsttheorie sind dafür gut geeignet und sind auch für sich wichtige Ergänzungen zu Museumsbesuchen und sonstigen Kunsterlebnissen sowie zum praktischen Teil des Kunstunterrichts.

 

Kunst als Hintergrund des Bildungssystems

In den visuellen Künsten und allgemein beim Akt der visuellen Wahrnehmung gliedert man die Tiefe des Raumes in den Vordergrund, den Mittelgrund und den Hintergrund. Der Mittelgrund macht das Motiv aus und wird durch Vor- und Hintergrund gebildet, wobei der Hintergrund entscheidend für die Deutung des Motivs ist. Durch Manipulieren am Hintergrund kann man das Motiv fast beliebig verändern. Außerdem ist die Rolle des Hintergrunds für das Raumkonzept, für das Konzept der Verknüpfung von Sichtbaren mit dem Unsichtbaren im Bild maßgebend.

Die Aussage von Loris Malaguzzi*, dass der Raum der dritte Pädagoge sei, wird oft und zurecht zitiert. Wenn man aber den Begriff RAUM nicht nur auf den Wohnraum, Übungsraum und Schule bezieht, sondern um den Hintergrund in einem Kunstwerk erweitert, wird es klar, dass auch die besten Schulgebäude, Programme und Lehrer für die erfolgreiche Erziehung und Bildung nicht ausreichend sind. Bildung beginnt und endet mit diesem sinnstiftenden Hintergrund, den man auch Kultur nennen kann. Ohne Kultur gibt es keine Bildung. Lesen und schreiben zu können ist noch keine Bildung. Bildung ist ein kulturelles Menschenrecht, sie „muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit“** ausgerichtet sein. Kant definiert Persönlichkeit als „die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört.“*** Erst in der Persönlichkeit erscheint der Mensch für Kant in seiner Würde. Ihre Autonomie gibt uns die Möglichkeit für eine freie sittliche Selbstbestimmung.
Wenn man sich mit der Frage „Was ist Kunst“ ernsthaft auseinandergesetzt hat, wundert man sich, warum dieses Kulturpotenzial in unserem Bildungssystem so wenig genutzt wird. Im Lauf der Geschichte von der Antike bis zur heutigen Zeit ist es ganz klar zu sehen, wie das Bildungssystem immer weniger als Träger der Kultur und immer mehr als Fachschule fungierte. Klosterschulen des Mittelalters waren möglicherweise die letzten, wenn man den Versuch von Wilhelm von Humboldt (Humboldtsches Bildungsideal) nicht dazu zählen würde, die, an antike Vorbilder angelehnt, einen Kulturauftrag im Sinne hatten. Bildung ohne einen geistigen Hintergrund ist dazu verurteilt, eine Aus-Bildungsanstalt zu werden.



Können nicht die Künste die Rolle eines geistigen Hintergrunds in unserem Erziehungs- und Bildungssystem übernehmen? Des Hintergrunds, der das Fachwissen ordnet, eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis herstellt und dem Schüler im Kultur-Raum eine Orientierung gibt. Kunst kann dazu verhelfen, das Bildungssystem an dem Kind mit mehr Erfolg auszurichten, bereits im Vorschulalter Interesse am Kulturleben zu erwecken und damit die Persönlichkeitsbildung des Kindes besser zu fördern.


*Loris Malaguzzi, (* 23. Februar 1920 in Correggio; † 30. Januar 1994 ebenda) war ein italienischer Pädagoge. Er war ebenfalls einer der Begründer der Reggio-Pädagogik und machte diese weltbekannt. Er arbeitete als Leiter eines Kindergartens in Reggio Emilia.


**Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Resolution 217 A (III) der Vereinten Nationen vom 10.12.1948. Artikel 26
(1) Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offen stehen.
(2) Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.
(3) Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.


***Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. I, 1, 3. Akad.-A. 5, 87.