Das Bild

1. Bild als Eindruck

Alles, was der Mensch sieht, hört, tastet, schmeckt und riecht, hinterlässt einen Eindruck. Es sind Eindrücke, die sehr schnell verflüchtigen, oder solche, die uns das ganze Leben lang begleiten oder verfolgen. Neue Eindrücke und Eindrücke, die sich jeden Tag wiederholen. Eindrücke, die glücklich machen, und solche, die uns verletzen und verstimmen. Eindrücke, die bewusst aufgenommen werden, und solche, die automatisch stattfinden. Eindrücke sind ein Teil unserer Erfahrungen, sie sind Kräfte, die den Menschen von Geburt an formen, erziehen und bilden.
 
Um möglichst gute Voraussetzungen für seine äußere sowie für die innere Entfaltung zu schaffen, lernt der Mensch seine Umwelt harmonisch zu gestalten. Das heißt den Fluss der Eindrücke sinnvoll und dem Umstand entsprechend zu bestimmen. Außerdem lernt man es, Eindrücke zu verarbeiten, schlechten Eindrücken möglichst aus dem Weg zu gehen und gute Eindrücke willentlich durch Erinnern und Visualisieren in sich aufs Neue hervorzurufen.
 
Künste sind eine besondere Art von Tätigkeit, bei der es möglich ist, wertvolle Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln. Und gleichzeitig sind sie dafür bestimmt, starke und wertvolle Eindrücke und Erfahrungen bei den Menschen durch die Wahrnehmung der Kunstwerke hervorzurufen. Es bietet sich auf dieser Stelle an, sich an die Definition der Kunst von Paul Cézanne zu erinnern: „Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur."  Das Können der Künste sowie der Erfolg der Bildung und der Erziehung gründen auf einem tiefen Verständnis und umfangreichem Wissen über das Wesen und die Natur der Eindrücke. Jede Kunstgattung, einschließlich der Baukunst, verfügt über eine bestimmte Art und Weise der Ausdrucksformen und Ausdrucksweisen. Architektur, Skulptur, Design und Bildende Kunst sind für die Gestaltung der Umwelt und damit für visuelle und haptische Eindrücke des Menschen „parallel zu Natur" verantwortlich.
 
 
2. Bild als Vorstellung

Bild als Vorstellung verstehen wir als integratives Verfahren der Psyche, als ein im Inneren abspielendes Kompositions- und Generierungsverfahren, in dem Informationen, die sich zeitlich, räumlich, sowie in Bezug auf die Beschaffenheit unterscheiden, zu einem Ganzen verknüpft werden. Weil die Informationen sich von den Eindrücken, Erfahrungen und dem theoretischen Wissen ableiten, befinden sich Bilder als Vorstellungen ständig in einem Findungs- und Korrekturprozess.  
 

3. Bild als Kunstwerk

3.1. Bild als Konstrukt aus Raum, Zeit und Bedeutung auf drei Wirkungsebenen

Bilder im Sinne von Kunstwerken sind menschliche Schöpfungen, welche unsere Weltvorstellung mitbestimmen und dafür bewusst eingesetzt werden. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssen Kunstwerke bestimmten Anforderungen entsprechen. Diese Anforderungen haben wir in unserer Bilddefinition als „ein Konstrukt, ein Zusammenhang von Raum, Zeit und Bedeutung" zum Ausdruck gebracht. Des Weiteren haben wir festgestellt, dass die Kunstwerke bewusste Verbindungen der physischen (Träger, Material, Art der Bearbeitung), emotionalen (Motiv, Ausdrucksweise) und geistigen (Botschaft, Idee) Wirkungsebene sind. Daraus folgt, dass das Konstrukt aus Raum, Zeit und Bedeutung auf allen drei Wirkungsebenen realisiert werden muss. Dafür braucht der Künstler für jede Wirkungsebene entsprechende Mittel, die mannigfaltige und individuelle Formen annehmen können.

3.2. Raum, Zeit und Bedeutung als Koordinatensystem des Bildes

Der Raum als Bilddimension entspricht der Applikate, der Z-Achse im orthogonalen Koordinatensystem. Der Betrachter, der nach vorne auf das Bild schaut, wird immer in der Z-Achse vorgestellt. Die horizontale X-Achse, die Abszisse ist die Zeitachse. Die Bezeichnung Abszissenachse kommt aus dem Lateinischen und heißt in dieser Sprache linea abscissa, was übersetzt „abgeschnittene Linie" bedeutet. Diese „abgeschnittene Linie" verstehen wir als seitliche Projektion des Kreises, der Kreisbewegung. Die vertikale Y-Achse, die Ordinate entspricht der Bedeutungsachse. Die ebenfalls lateinische Bezeichnung linea ordinata heißt übersetzt „geordnete Linie". Die „geordnete Linie" ist in der Dreidimensionalität des Bildes die eigentliche Achse, um die die Kreisbewegung der Zeitachse stattfindet und in deren Richtung zur Mitte hin die Z-Achse verläuft. Sie, die „geordnete Linie" schafft Ordnung und Orientierung in dem Raum sowie in der Zeit und verbindet sie zu einer Einheit.

Bildfläche muss man sich als Sicht von Oben auf die Zeitebene, die in die Ansicht geklappt ist, vorstellen. Als stehende Fläche vereint sie sich mit der vertikalen Ordinatenachse und erweist sich dadurch als ein Mischwesen aus Zeit und Bedeutung. Dass die Bildfläche die Form eines Rechtecks hat, ist zum Einen dieser Mischung, zum Anderen der Vierer-Struktur der Zeitzyklen zu verschulden: Tag und Nacht und zwei Übergangszeiten sowie die vier Jahreszeiten. Mit dieser Mischung wurde eine Art Zauberspiegel geschaffen. Bild ist eine Projektion des Raumes auf die „leere" Fläche dieses Zauberspiegels. Das Sichtbare wird auf das Unsichtbare projiziert und geht mit dem letzten eine Beziehung ein. Um sich mit der Zeit und der Bedeutung konstruktiv zu verbinden, bekommt das Sichtbare im Vorgang dieser Projektion bestimmte „Korrekturen" und Transformationen. Diesen Korrekturen zu Grunde liegt eine bestimmte Weltanschauung oder deren bestimmte Aspekte. Ändert sich die Weltanschauung, ändern sich die „Korrekturen". Mit dem Begriff der Perspektive bezeichnet man kunsttheoretisch das Regelwerk, nach dem Korrekturen vorgenommen werden. Kunstgeschichtlich unterscheidet man zwischen der Perspektive der orthogonalen Projektionen, der Parallelperspektive, der Umgekehrten Perspektive und der Zentralperspektive. Natürlich gibt es viel mehr Perspektiven, die allerdings keinen eigenen Namen bekommen haben. Dies lässt sich dadurch begründen, dass diese Perspektiven kunsttheoretisch noch nicht erschlossen sind oder dass sie nur für eine kurze Zeit ihre Geltung hatten. Wir leben in einer Zeit, in der in einer Kultur parallel zu einander verschiedene Weltanschauungen existieren. Beziehungsweise viele Ansätze, oft sehr widersprüchliche, die auf der Suche nach einem neuen ganzheitlichen Weltbild entstehen.

3.3. Versuch die Ausdrucksmittel von Raum, Zeit und Bedeutung auf der materiellen, emotionalen und geistigen Ebene des Bildes zu bestimmen

3.3.1. Die Ausdrucksmittel des Raumaspekts auf der materiellen Ebene des Bildes sind die gegebenen Mal- und Zeichenmaterialien sowie der Körper des Trägers an sich (X- und Y-Achse). Auf der emotionalen Ebene wird der Raum mittels Darstellung sinnlich wahrnehmbarer Raumeigenschaften, Figuren und Gegenstände zum Ausdruck gebracht. Auf der geistigen Ebene stehen dem Künstler bestimmte Transformationsmöglichkeiten zur Verfügung, dem dargestellten Raum, Figuren und den Gegenständen zusätzliche Eigenschaften zu verleihen, die seiner Vorstellung, seinem Denken über den Raum entstammen, oder welche zu entfernen (X-, Y- und Z-Achse).

3.3.2. Die Zeit auf der materieller Ebene äußert sich durch die Art und Weise der Bearbeitung des Trägers und der Anwendung des Mal- und Zeichenmaterials (X und Y-Achsen). Und wenn es mehrere sind, auch durch dessen Verbindungen. Die emotionale Ebene arbeitet mit fragmentarischen Rhythmus-Zusammenhängen und Kontur und Linie als Ausdrucksmittel (X- und Y-Achsen), und die geistige Ebene zeigt sich in Gliederung und Struktur (rhythmische Einheit) der ganzen Bildfläche, der Figuren und Gegenständen und in der Narrativität aller Ausdrucksmittel und Ausdrucksformen (Z-, X- und Y-Achsen).

3.3.3. Alle Mittel, die der Künstler gebraucht, um das Sichtbare darzustellen und es mit dem Unsichtbarem zu verbinden, gehen aus der „inneren Notwendigkeit“ des Bildes hervor und sind vom der Intention des Künstlers abgeleitet. Alles wird der Bedeutung nach hinterfragt und ausgerichtet. Auf der materiellen Ebene wird dem ausgewählten Material selbst, und wenn es mehrere sind, deren Zusammensetzung eine Bedeutung zugewiesen (X- und Y-Achse). Auf der emotionalen Ebene des Bildes kommt die Bedeutung durch die Formwahl, die Größenverhältnisse von allen Bildelementen und deren Verortung auf der Bildfläche (Z-, X- und Y-Achse) zum Ausdruck. Die Gliederung der Bildfläche, die Verbindung zwischen den Ausdrucksmitteln und Ausdrucksformen, die Verbindung der Ausdrucksformen mit der Symbolsprache der jeweiligen Kultur und die Verbindung zwischen den Ausdrucksformen und deren Verortung im Raum und auf der Bildfläche: Dies sind die Mittel, die dem Künstler für die Bedeutungszuweisung zur Verfügung stehen. Alle Bedeutungen zusammen bilden die inhaltliche, dass heißt symbolische und narrative Einheit des Bildes.


3.4. Räumliche Einheit auf materiellen, emotionalen und geistigen Ebenen des Bildes

3.4.1. Taktile Wirkung und taktile Einheit des Bildes

Die Kunstgeschichte kann man als Entmaterialisierung des Kunstwerkes lesen, die wir negativ, d.h. als Verlust deuten. Die Alten Ägypter haben an der Wand und Stein gearbeitet. Die frühchristliche Kunst hat zusätzlich zur Wand das Holz als Träger der Bilder verwendet. Im späten Mittelalter überging man hauptsächlich zu der aufgezogenen Leinwand. Wenn die materielle Ebene bei Alten Ägyptern und in der Ikonenmalerei der Frühchristen noch aktiv in die Wirkung und den Ausdruck einbezogen war, wird es in der Renaissance, soweit es geht, unsichtbar gemacht, um eine illusorische Raumwirkung zu erzeugen.
 Die Wand als Bildträger bei Alten Ägyptern und das Holz in der frühchristlichen Kunst liefern aufschlussreiche Ansätze der Einbeziehung des Ausdrucksmaterials in das raumzeitliche Konzept des Bildwerkes und der Architektonik der Bauanlage. Die Wand ist ein fester Teil in dem zeiträumlichen Kontinuum der Bauanlage. In dieser raumbildenden Eigenschaft wird sie durch das Bildwerk nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, der Wand wird dadurch eine zusätzliche Materialwirksamkeit gegeben. Denken wir an die Reliefs der Alten Ägyptern oder an die Mosaiken der Byzantiner. Es sind Wandbilder und nicht Bilder auf der Wand. Die Wand als Bild bleibt tektonisch in das raumzeitliche Gefüge eines Baus einbezogen. Das inhaltliche und raumzeitliche Konzept der Bildsprache korrespondiert und verschmilzt mit dem inhaltlichen und zeiträumlichen Konzept des Raumes und der ganzen Bauanlage!
 Christliche Ikonen liefern ein weiteres Beispiel für die Einbeziehung des Materials in das inhaltliche und raumzeitliche Konzept des Bildwerkes. Das sorgfältig vorbereitete Brett spielt dabei eine ähnliche Rolle wie die Wand bei den Reliefs. Das Brett als Bildkörper, die Bildfläche und der Bildraum bilden eigenständige und dennoch gleichzeitig miteinander in Beziehung stehende Ebenen in dem Raum-Zeit-Bedeutungs-Konzept der Ikonenmalerei.
 In der Kunst der Renaissance ist taktile Wirkung nicht mehr im Fokus der Künstler. Die Materialität des Trägers sowie des Malmittels wird zum störenden Faktor. Das änderte sich erst im 17. Jahrhundert mit der Velázquez Malweise und findet einen gewissen Höhepunkt in den Arbeiten der russischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die sich zum Ziel setzte, eine neue Tastwelt aufzubauen, in der die Menschen immer mehr „taktil" zu sehen lernen.