Als ich 19 war und Architektur studierte, hatte ich in unserer Hochschulbücherei ein Buch über japanische Zengärten gekauft. Аus heutigen Sicht (63) war dieses Buch eins der wichtigsten in meinem Leben. Das Gedankengut des Zen-Buddhismus hatte meine Art- und Weise zu denken und zu leben sehr beeinflußt. Es hat sich ein Zenmeister, oder besser gesagt eine Zenmeisterstimme in mein Inneres Eingesiedelt. In bestimmten Situationen meldet sie sich zum Wort und hilft mir Ruhe zu bewahren und Entscheidungen zu treffen. Was die Zengärten betrifft, so sind sie auch Heute noch für mich die schönsten und die tiefsten Äußerungen des menschlichen Geistes. Die Zen-Gartenkunst ist eine von viele anderen Zenkünsten, die eine zentrale Rolle in der Zen-Pädagogik spielen. Sie sind eine großartige Schule auf dem Weg der Selbstfindung, die sich weit über die Grenzen Japans verbreitet hat.
Auf der Suche nach Rezeption der Zenkunst-Pädagogik in der westlichen Kultur bin ich auf die Inaugural Disertationt von Mariko Fuchs gestoßen, die sich mit „Pädagogik des Zenmeisters“ auseinander setzt. Vollständigen Text findet man im Netz, und hier sind von mir ausgewählte Passagen als „Einstieg“ in die Problematik der Arbeit zu lesen.
Die Dissertation ist auch als Taschenbuch 2009 unter dem Titel „Ewig üben: Die Pädagogik des Zeinmeisters“ erschienen.
Hier genaue Angaben zur Dissertation:
Inaugural-Dissertation
zur Erlangung des Doktorgrades
der Philosophie (Dr. phil.)
durch die Philosophische Fakultät der
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
vorgelegt von Mariko Fuchs M.A. aus Schwalmtal
Disputation 31. Juli 2007
Erstes Gutachten von Prof. Dr. Gerhard Michel
Zweites Gutachten von Prof. Dr. Michiko Mae
Hier von mir die ausgewählten Passagen ohne Fußnoten. Fettmarkierungen sind von mir:
In dieser Arbeit wird die Pädagogik des Zenmeisters in den japanischen Klöstern anhand der abendländischen erziehungswissenschaftlichen Begriffe untersucht. Ziel dieser Forschung ist, ihre charakteristischen, aber auch für Japaner relativ unbekannten Inhalte sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht darzulegen und zu analysieren. Aus dem Ergebnis lässt sich die Ursache für das Missverständnis der Zen-Rezeption im Westen verdeutlichen. Zum Schluss wird überlegt, inwieweit das Zen und die Pädagogik des Zenmeisters in unserer globalen Zeit über Modetrend hinausgehen und eine wirklich sinnvolle Alternative im pädagogischen Bereich sein kann, die auf wissenschaftlichen Einblicken beruht.
Der Buddhismus entsprang der Lehre Shâkyamuni-Buddhas vor 2500 Jahren, der versuchte, den Menschen das Wesen des Selbst erkennen zu lassen, und der dadurch eine harmonische Beziehung des Menschen zur Welt aufzeigte. Seit der damaligen Zeit ist die Lehre des Buddhismus bis heute gut bewahrt worden, und in den Zen-Schulen entwickelte sich ein originales effizientes Übungssystem mit dem Ziel, die Einsicht in das Selbst zu gewinnen und damit das Leben neu zu bestimmen. Dabei ist die Beziehung zwischen Meister und Schüler äußerst wichtig, was die Zen-Schulen von anderen buddhistischen Richtungen unterscheidet. Der Kern des Zen-Buddhismus besteht in nichts anderem als der durch die Übungen erlangten Einsicht, die von Generationen von Zenmeistern weitergereicht wurde, so wie Wasser von einer Schale in eine andere Schale umgegossen wird.
Das Wort „Zen“ ist die Abkürzung des japanischen Wortes „Zenna“ (Sanskrit: „Dhyâna“), das „Versenkung“ oder „Versunkenheit“ bedeutet. Ursprünglich gab es ähnliche Meditationsübungen beim indischenYoga, und der Buddhismus übernahm diese Tradition als einen Teil seines Dogmas. Normalerweise wurde Zen als eine Übungsform in jeder Schule des Mahâyâna-Buddhismus neben den dogmatischen Lehren und Normen gelehrt. Aber im eigentlichen Zen-Buddhismus wurde der Schwerpunkt besonders auf die Zen-Übung gelegt, und alle anderen Elemente der buddhistischen Lehre wurden unter dem Begriff des Zen subsumiert. Daher nennt man diese Schule „Zen-Buddhismus“ oder einfach „Zen“.
Der Zen-Buddhismus wurde im 6. Jahrhundert n. Chr. durch Bodhidharma von Indien nach China gebracht und entwickelte sich dort auf der Basis des Taoismus und Konfuzianismus weiter. Einen wesentlichen Zusammenhang zwischen Buddhismus und Taoismus bildet das „Mu“ (Nichts) als Hauptgedanke des Zen. Der konfuzianische Einfluss zeigt sich in den rituellen Aspekten des Zen-Buddhismus.
Der Zen-Buddhismus hat die japanische Kultur auf verschiedene Weisen beeinflusst. Zum Beispiel kann man die bekannten japanischen Künste, wie Sadô (Teezeremonie) oder Kadô (Blumenstecken), ohne zen-buddhistische Elemente nicht richtig verstehen. In den Kampfkünsten, wie Kendô (Schwertfechten) oder Kyûdô (Bogenschießen), wird die Haltung beim Kampf nach der Zen-Lehre eingestimmt. Außerdem prägte der Zen- Buddhismus neben dem Konfuzianismus und dem Shintoismus wesentlich die japanische Mentalität.
Der Mahâyâna-Buddhismus entstand zuerst in Indien und wurde gegen Ende der westlichen Han-Dynastie in China eingeführt. Dabei verstärkte der Einfluss der chinesischen Denkweise die Tendenz, sich mehr an der Gegenwart zu orientieren. Man hoffte nämlich nicht, irgendwelche Ideale nach dem Tod in der nächsten Welt zu erreichen, sondern akzeptierte die Wirklichkeit sofort und erwartete etwas Besseres in der gegenwärtigen Welt. Die Betonung der allen Lebewesen immanenten Buddha-Natur ist eine der chinesischen Entwicklungen des Mahâyâna-Buddhismus. Nach einiger Zeit entstanden sowohl der Zen- Buddhismus als auch die Jôdo-Schule selbständig in China, und beide kamen später auch nach Japan. Da sie zum Mahâyâna-Buddhismus gehörten, behielten sie dessen Grundsätze bei.
Der Mahâyâna-Buddhismus als Gegenbewegung gegen den Hînayâna-Buddhismus, der sich von der Gesellschaft abgelöst hatte, war sozial aufgeschlossen. Vom pädagogischen Standpunkt gesehen, war dies bedeutsam, weil das Interesse des buddhistischen Lehrers nicht mehr darin steht, eine Auslese auszubilden, sondern diese Lehre möglichst breit im Volk zu vermitteln. Die Adressaten der Erziehung und Bildung wurden die Laien, die kein spezielles Vorwissen hatten.
Im Buddhismus werden die Menschen darüber aufgeklärt, was „Buddha“ ist, und aufgefordert, auch selber Buddha zu werden. Dies zu verwirklichen ist die Intention der buddhistischen Erziehung und Bildung. Genauer formuliert: Das Ziel ist das Erwachen des Individuums. Zu fragen ist nun: Wie kann man die richtige Einsicht in das Buddha-Sein vermitteln? Mit welcher Praxis wird der Weg zum Buddha-Sein beschritten? Wie kann man diese Lehre durch Erziehung und Bildung in der Gesellschaft weiter verbreiten? Die Meister im Buddhismus werden aufgefordert, diese Aufgaben zu lösen. Wer als Bodhisattva tätig ist, kann diesen Anspruch erfüllen. Der pädagogische Ansatz des Bodhisattvas hat drei Schwerpunkte:
Erstens liegt eine erzieherische Liebe im Wesen des Bodhisattvas, da er ja die Erlösung aller Lebewesen anstrebt. Der Bodhisattva sieht keinen Unterschied zwischen sich selbst und den anderen und wünscht immer alles Gute auch für die anderen, weil sie in Hinblick auf das Nichts eigentlich nichts anderes sind als er selbst. In diesem Sinne ist es unmittelbar das eigene Interesse des Bodhisattvas, den anderen die richtige Einsicht erlangen zu lassen, und darauf beruht sein großes Vertrauen, wie er sein eigenes Buddha-Sein erfasst. Das ist die grundlegende Haltung des buddhistischen Erziehers. Diese Art von Liebe heißt im Buddhismus „Karunâ“, was „grenzenloses Erbarmen“ bedeutet. Der Prozess der Erziehung und Bildung ist ohnehin Ausdruck der Freigebigkeit im Sinne der Sechs Pâramitâs. Bei der Erziehung muss der Erziehende viel Geduld haben, was auch zu diesen Pâramitâs gehört.
Zweitens ist es wichtig, dass der Bodhisattva nicht nur Erzieher für die anderen Menschen, sondern auch selbst noch ein Übender ist. Im Buddhismus heißt Lernen unmittelbar auch Üben, und die eigene Übung hat kein Ende. Alle Übungen enthalten also zwei Faktoren, einmal die Zielsetzung für die anderen und zum anderen die für sich selbst, und beide sind voneinander abhängig. Sittlichkeit, Bemühung, Versenkung und Weisheit als weitere Elemente der Sechs Pâramitâs beziehen sich in der Praxis primär auf den Übenden selbst, aber letztendlich kommen sie auch den anderen Menschen zugute. Da der Bodhisattva selbst noch den gleichen Weg geht, kennt er die Schwierigkeiten der anderen Übenden so gut, dass er aus Mitgefühl versucht, eine effiziente Übung für sie zu finden. In seiner Art bleibt er immer bescheiden, weil er sich dessen bewusst ist, dass auch er noch auf dem Wege ist. Die Einheit von Erziehen/Bilden und Üben wirkt auf diese Weise pädagogisch effektvoll im Wesen des Bodhisattvas.
Drittens ist die Lebensweise des Bodhisattvas für das Ziel der Verbreitung des Buddhismus ideal. Es gibt keinen exklusiven Anhängerkreis im Mahâyâna-Buddhismus. Der Bodhisattva unterscheidet sich nicht von den anderen Laien und lebt ganz gewöhnlich mitten in der Welt. Normale Menschen können ihn oft nicht als einen Heiligen erkennen. Dennoch veranlasst seine Berufung ihn, die Menschen in seiner Umgebung nach und nach zu beeinflussen. Seine pädagogischen Aktivitäten werden immer von seiner unbegrenzten Liebe und seiner erfolgreichen Strategie getragen. So bringt ein Bodhisattva einen anderen Bodhisattva hervor, der wiederum seinen Nachfolger findet. Sein gegenwärtiges Leben sieht er nicht als Wirkung einer schlechten Ursache an, sondern er wünscht explizit, in ihm zu verbleiben, um durch sein Karma erzieherisch zu wirken und die Lehre des Buddha zu verbreiten. Die Kausalkette in Verbindung mit dem determinierten Karma wird unter diesem Aspekt positiv angesehen.
Die Aufgaben der buddhistischen Erziehung und Bildung werden, wie oben erwähnt, durch das Wesen des Bodhisattvas zielorientiert gelöst. Es gibt aber noch ein wesentliches Element, bei dem diese pädagogische Vermittlung vorausgesetzt wird, nämlich die Bildsamkeit. Hier soll zunächst dargestellt werden, wie der Buddhismus diese Fähigkeit betrachtet.
Der führende Gedanke bei der buddhistischen Erziehung und Bildung ist, dass alle Menschen die Buddha-Natur haben. Die Möglichkeit zur Erlösung ist deshalb für jeden offen; darauf gründen sich alle pädagogischen Handlungen im Buddhismus. Die Buddha-Natur enthält daher ganz originär die Bildsamkeit, die aber einen widersprüchlichen Charakter hat. Im Buddhismus bedeutet nämlich die Bildung nicht immer, dass „etwas gebildet wird“. Das Gebildete muss schließlich sogar „weggebildet“ werden, weil die Phänomene gleich Nichts sind. Alle Übungen dienen nur dazu, zur ursprünglichen Natur zurückzukehren, wo man diese Übungen nicht mehr braucht.
Die Buddha-Natur, die von Anfang an jedem Menschen innewohnt, setzt die Erweckung durch die Erziehung voraus, lässt aber die Menschen frei von aller „Bildung“. Die Bildsamkeit im Buddhismus bedeutet gleichzeitig die absolute Freiheit von der Bildung. Daraus soll ein recht selbständiger Mensch entstehen, der nie an etwas Gelehrtes gebunden ist. Buddha zu werden heißt, solch ein selbstverantwortlicher Mensch zu werden, der durch seine Bodhisattva-Barmherzigkeit wieder zur Gesellschaft Beiträge leisten kann.
Über diesen inneren individuellen Aspekt hinaus spielt die Buddha-Natur noch eine weitere wichtige Rolle. Die Buddha-Natur ist die ursprüngliche Kraft, die alle Lernenden selbst leitet. Jeder Mensch hat irgendeinen Anlass, den Weg des Buddha einzuschlagen. Bei diesem Anlass stößt ihn ein fester Entschluss an, nämlich der Bodhi-Geist.
Aus der richtigen Einstimmung von Körper und Geist durch die Gebote entsteht die Sammlung, die zur tiefen Versunkenheit führt. In diesem Zustand kann man die Wahrheit richtig erkennen, was etwas anderes als das kognitive Verständnis im herkömmlichen lernpsychologischen Sinne ist. Im frühen Buddhismus gibt es vier Phasen der Sammlung, von denen die höchste in die Weisheit übergeht. Die richtige Einsicht steht stets im Zentrum der Übungen und ist nicht getrennt von der körperlichen Praxis. Sie muss in zwei Bereiche aufgeteilt werden: die Kôjô-Weisheit, mit der man über alle Differenzierungen hinaus die ursprüngliche einheitliche Natur zurückgewinnt, und die Kôge-Weisheit, mit der man wieder zu seiner gewöhnlichen Welt zurückkehrt und dort zielbewusst für die Erlösung der Menschen arbeitet.
Die buddhistische Erziehung und Bildung setzen sich also fast ausschließlich aus den verschiedenen körperlichen Übungen zusammen.
Manche Übungen, beispielsweise das Lesen oder das Nachschreiben der Sûtren, scheinen intellektuelle Aktivitäten zu sein. Sie sind aber nicht dazu gedacht, die Inhalte zu überdenken und zu verstehen. Ihr Sinn besteht vielmehr in den körperlichen Bewegungen, dem Benutzen der Stimme oder der Hand. Dabei üben die Schüler, die Ganzheit der Wahrheit in den Sûtren mit dem eigenen Körper zu akzeptieren.
Auf diese Weise spielt die Körperlichkeit eine wichtige Rolle in der Praxis der buddhistischen Erziehung und Bildung.
Das zweite Merkmal ist, dass eine Übung immer als eine gemeinsame Aktivität von Erzieher und Schüler durchgeführt wird. Im herkömmlichen Unterricht übernimmt der Lehrer die Aufgabe des Lehrens, und der Schüler übt mit dem gegebenen Material selbständig, um es zu meistern. Ziel ist es dabei, dass der Schüler die vom Lehrer vorweg definierten Fähigkeiten erwirbt, wobei der Lehrer selbst in gewissem Sinne statisch unverändert bleibt.
Bei der buddhistischen Übung sind stets beide in einem dynamischen Prozess der Entwicklung. Der Erzieher zeigt dem Schüler die Wahrheit durch sein eigenes Üben und nicht durch eine theoretische Erklärung. Ziel seines Handelns ist aber nicht in erster Linie das Erziehen, er ist im Sinne des Bodhisattvas selber noch Übender, und sein Üben hat kein Ende. Deshalb ist im Buddhismus die Übung von Erzieher und Schüler eine Zusammenarbeit von absolut Gleichwertigen.
Drittens ist es sehr charakteristisch für die buddhistische Erziehung, dass diese Übung nicht irgendeinem Zweck dienen soll, sondern selbst direkt das zu erreichende Ziel ist. Methodisch bezweckt man durch die Übungen zwar das Erwachen, und oft gibt es sogar eine festgelegte Reihenfolge der Übungen, aber jede Phase ist eigentlich immer auch schon Vollendung, da alle Phänomene gleich Nichts sind. Diese Struktur, die Verflechtung der Welt der Differenzierungen und der des wahren Einsseins, erkennt nur der Erzieher. Was die Schüler tun können, ist üben, im Glauben, dass ihre Übung schon die Übung Buddhas ist. Daher nimmt der Erzieher pädagogisch Rücksicht auf die Schüler und versucht, gute Mittel zu verwenden, um sie zu überzeugen.
Das vierte Merkmal in der Methode der buddhistischen Erziehung ist das intuitive Erfassen der Überlieferung durch die Übung. Bei einigen Schulen, vor allem bei den neuen Schulen außer den Zen-Schulen der Kamakura-Zeit, wird dieser Aspekt der Erleuchtung kaum thematisiert, und stattdessen wird der Glaube an den Amida-Buddha, beispielsweise bei den Jôdo-Schulen, betont. Wenn man aber die ursprüngliche Bedeutung des Buddha- Begriffs bedenkt, nämlich „der Erwachte“, dann sollte die Bedeutung der intuitiven Einsicht in die Wahrheit außer Frage stehen. Deshalb gehört diese direkte Schau in den Ursprung, ob sie nun im Vordergrund steht oder nicht, zur Voraussetzung aller Schulen.
Die Problematik der Überlieferung wurde schon erwähnt. Wegen des diffizilen Charakters einer authentischen Überlieferung entstanden im Laufe der Zeit viele Schulen, die verschiedene Übungsmethoden für das eigene Dogma entwickelten. Das fünfte Merkmal der Methoden der buddhistischen Erziehung besteht in dieser Variabilität der Übungsmethoden. Shâkyamuni-Buddha selbst sah schon die Schwierigkeiten bei der Weitergabe der Lehre und versuchte immer unterschiedliche Methoden bei unterschiedlichen Menschen anzuwenden. Die Drei Dharma-Formeln, die Vier Edlen Wahrheiten, der Achtfache Pfad, die Zwölfgliedrige Kette und der Mittlere Weg sind solche Beispiele. Im Lotus-Sûtra wird das folgendermaßen dargestellt:
„Mit unzähligen geschickten Mitteln, zahllosen Geschicken und Beispielen lege ich dar und predige alle Gesetze. Dieses Gesetz nun ist nicht so, dass man es gut dadurch versteht, dass man es in Gedanken bemisst und in Unterscheidungen darlegt. Einzig die Buddhas können es wissen ... Sämtliche Buddhas, die in der Welt Verehrten, erscheinen deshalb in der Welt, weil sie wünschen, die Lebewesen dahin zu führen, dass sich ihnen das Wissen und die Schau des Buddha auftut und sie Klarheit gewinnen.“ So führen alle diese Methoden die Lebewesen auf den Weg Buddhas. Sie sind aber nicht bloß Mittel (Hôben) zum Zweck, sondern die Wahrheit selbst.
Die Unterschiede zwischen den buddhistischen Schulen sind im Allgemeinen größer als die zwischen den christlichen Konfessionen. Der Grund dafür ist folgender: Shâkyamuni- Buddha, der mehrere Methoden bei verschiedenen Menschen verwandte, hinterließ selber keine Texte, und erst nach hundert und mehr Jahren fassten die Nachfolger seine Lehre in einzelne Sûtren zusammen. Danach erschienen die Sûtren von Zeit zu Zeit immer wieder neu, wurden aber jedes Mal so geschrieben, als ob der jeweilige Verfasser den Inhalt persönlich von Shâkyamuni übernommen hätte.
Während im Christentum die Überlegenheit der Bibel deutlich ist und bei den Protestanten die Bibel sogar als einzige Autorität gilt, wählt im Buddhismus jede Schule bestimmte Sûtren aus der Vielzahl der überlieferten Texte als Kanon aus. Damit versuchen ihre Anhänger, ihre religiösen Erfahrungen zu erklären und zu rechtfertigen. Die Auswahl der grundlegenden Sûtren reflektiert den Charakter der Übungsmethoden. Es ist dabei wichtig, dass diese Vielfalt vom buddhistischen Dogma selbst akzeptiert wird.
Die erste Aufteilung der Methodiken erfolgt nach den drei Lernfaktoren, Gebote, Sammlung und Weisheit. Obwohl sie eigentlich drei Aspekte einer Übung sind und einer die anderen zwei immer enthalten muss, werden sie oft als drei Phasen verstanden. Diese Interpretation ruft auch die unterschiedlichen Haltungen zur Übung hervor. Die verschiedenen Methodiken beruhen nämlich darauf, welche Phase als Anfang und welche als Abschluss gesetzt wird. Normalerweise wird der erste Zustand des Menschen für elendig gehalten. Er braucht also die Gebote, damit er sein Leben allmählich verbessern und schließlich die Weisheit gewinnen kann. Die Lehre mit dieser Einstellung wird „Shikakumon“ genannt. Im Blumengirlanden-Sûtra wird der Werdegang vom Bodhisattva zum Buddha in zehn Stufen ausführlich dargestellt. In den chinesischen Zen-Schulen herrschte diese Übungsanschauung vor, ebenso in der japanischen Rinzai-Schule, in der die Reihenfolge der Kôans nach der Reife der Übenden bestimmt wird. Auch die Jôdo-Schule hatte die gleiche Einstellung.
Weil der Buddhismus schließlich auf die Weisheit zielt, nehmen sie alles als Mittel, was für die Schüler in diesem Sinne nötig ist.
Auf Japanisch heißt Mönch „Unsui“, was „Wolke und Wasser“ bedeutet. Wie das Wort schon beschreibt, betrieb der Mönch seine Übungen früher, indem er wie Wolke und Wasser von einem Ort zum anderen wanderte. Wo auch immer er einen guten Meister fand, blieb er für eine Weile. Dann verließ er das Kloster und ging weiter. Seine Übungsreise hatte kein Ende. Wolke und Wasser drücken sehr gut den Geist des Zen aus, den absolut freien Zustand, ohne bei irgendetwas zu verharren.
In den Klöstern, in denen auch die Laien wohnen, entwickelte sich seit den 70er Jahren eine merkwürdige Situation. Mitten unter den Japanern üben nämlich einige Ausländer, zumeist aus Europa oder Amerika, sehr fleißig, was im großen Kontrast zum Desinteresse der normalen Japaner am Zen steht. Infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils schickt sogar die europäische katholische Kirche Patres dorthin, um einen spirituellen Austausch zu versuchen.
Es gibt schon mehrere ausländische Zen-Mönche und katholische Zenmeister. Auch im Ryûtakuji wohnen manchmal ein paar Ausländer, darunter auch Frauen, die genau wie die japanischen Mönche üben.
Es gibt eine Sommerperiode (April bis September) und eine Winterperiode (Oktober bis März) im Kloster. In den intensiven Übungsperioden der ersten vier Monate eines Semesters wird einmal im Monat ein einwöchiges Sesshin durchgeführt. Anschließend gibt es auch übungsfreie Zeiten, in denen die Mönche für eine kurze Zeit nach Hause gehen dürfen.
Im Kloster herrschen strenge Regeln und eine Hierarchie; die anfallenden Arbeiten werden dadurch rationell aufgeteilt. Im Prinzip gibt es zwei Gruppen von Mönchen, nämlich die Dônai und die Jôjû. Dônai heißt auf Japanisch „innerhalb des Zendôs“, es sind also die Mönche, die zumeist im Zendô bleiben und Zazen üben. Sie verrichten auch Arbeiten (Samu) und gehen betteln (Takuhatsu). Die Neulinge werden zuerst in den Dônai geschickt und dort trainiert. Jôjû ist die Abteilung, in der die Mönche neben der üblichen Übung das Finanzwesen, die Betreuung der Gäste und des Rôshis (Zenmeisters) sowie das Kochen übernehmen. Sie wohnen nicht im Zendô, sondern in eigenen Zimmern. In beiden Bereichen gibt es leitende Mönche, die je nach Länge ihrer Anwesenheit im Kloster bestimmt werden. Alle Aufgabenbereiche werden aber bei Beginn einer neuen Periode in der Regel wieder entsprechend der Hierarchie neu zugeordnet.
Vom buddhistischen Standpunkt aus sollten alle Menschen buddha-gleich sein, und die Hierarchie hatte nur eine erzieherische Bedeutung: Man sollte, ohne viel nachzudenken, einfach den Älteren folgen, und tatsächlich hatten sie eine Vorbildfunktion. Dessen waren sich die leitenden Mönche sehr wohl bewusst.
Der private Bereich für die Mönche ist sehr beschränkt. Die Dônai-Mönche üben das Zazen im Zendô und schlafen in der Nacht auch dort. Während der Tageszeit wird der Futon (das Bettzeug) zusammengerollt und auf der Ablage über dem Sitzplatz verstaut. Jeder Mönch sitzt auf einer Hälfte einer Tatami und schläft auf einer ganzen Tatami. Mehr an Raum darf er nicht besitzen; es ist die geringste Räumlichkeit, die ein Mensch überhaupt braucht. Die Mönche müssen aber durch die Übungen erkennen, dass dieser kleine Raum unmittelbar auch zugleich das Weltall ist.
Im Kloster wird möglichst wenig gesprochen. Vor allem während eines Sesshins ist es streng verboten, miteinander zu reden. Alle Angelegenheiten, die Zeremonien und die Mahlzeiten sowie das Baden werden nur mit dem Schlagen der Glocke oder des Holzbrettes angekündigt. Das Schweigen ist ein wichtiges Element bei der Übung. Man vermeidet dadurch, von Oberflächlichkeiten abgelenkt zu werden, und kann sich dabei besser seiner selbst bewusst werden. Ohne Sprechen sieht man in sich selbst hinein, und zwar mithilfe der eigenen Körperlichkeit. Damit wird die Lösung der Frage nach dem Selbst initiiert.
Im Kloster gibt es drei Mahlzeiten am Tag. Als Frühstück wird immer Reisbrei serviert. Dazu werden Sauerpflaume und eingelegter Rettich gereicht. Zu Mittag gibt es Reis, Suppe und Gemüse. Ein regelrechtes Abendessen ist eigentlich nicht vorgesehen, daher gibt es abends nur die Reste von den anderen Mahlzeiten und keine besondere Zeremonie. Selbstverständlich isst man kein Fleisch und keinen Fisch im Tempel, da das Töten verboten ist. Bei den ersten beiden Mahlzeiten werden Sûtren rezitiert. Dabei wird erklärt, dass man essen muss, um den buddhistischen Weg zu vollenden. Vor dem Essen werden einige Reiskörner aus jeder Schale genommen und auf den Tisch gelegt. Sie werden für die hungrigen Dämonen gespendet. Das Verhalten bei den Mahlzeiten ist sehr streng rituell bestimmt. Beim Essen darf man sich nicht unterhalten. Durch Handzeichen und durch das Verbeugen des Kopfes muss man seinen jeweiligen Wunsch beim Servieren ohne Worte mitteilen. Nach dem Essen säubert man sein Geschirr mit einer Scheibe Rettich und mit heißem Wasser. Beides nimmt man anschließend zu sich, damit nichts übrig bleibt.
Die Mahlzeiten im Kloster sind ein sehr wichtiges erzieherisches Element. Das Kochen wird nur einem erfahrenen Mönch erlaubt, der eine hohe Position in der Hierarchie innehat. Dies zeigt, wie sehr das Essen im Kloster geschätzt wird. In Bezug auf die drei Lernfaktoren, nämlich die Gebote, die Sammlung und die Weisheit, spielt das richtige Essen eine wichtige Rolle. Es ist nach Geboten geregelt, um durch die damit beförderte Einstimmung von Körper und Geist zur Sammlung und Weisheit wesentlich beizutragen.
Es gibt noch einen anderen Aspekt bei der Zen-Küche. Zen lehrt, dass alles, was überhaupt existiert, Buddha ist. Ein Blatt Salat oder eine Scheibe Karotten sind zwar nur etwas Gemüse in der Welt der Differenzierungen, aber gleichzeitig manifestiert sich darin die Buddha-Natur. Das muss man durch die Küchenarbeit erkennen. Man darf nicht solches Leben verschwenden, sondern man muss es bis zum letzten Teil völlig verwenden, damit das Gemüse seine Aufgabe als Gemüse erfüllen kann. Dabei sollte man immer für alles danken, das dazu beiträgt, das eigene Leben zu erhalten. Im Sûtra „Bodhisattvas Gelübde“ wird dieser Gedanke anschaulich dargestellt:
„Unsere Mahlzeiten, unsere Getränke und unsere Kleidung, mit denen wir den ganzen Tag unser Leben bewahren können, sind im Grunde das warme Fleisch Buddhas, die barmherzige Inkarnation Buddhas. Wer könnte ihnen nicht Respekt und Dankbarkeit zollen?“
Die Mahlzeiten sind also eine gute Gelegenheit für die Mönche, den unermesslichen Wert der einzelnen Dinge klar zu sehen und sie in allen Situationen vollkommen angemessen zu verwenden. Daher sind die Kleidung, die Wohnung und die Mahlzeiten der Mönche sehr bescheiden. Diese armselige Lebensweise hat ein klar bestimmtes Ziel. Man lernt dadurch zunächst, die eigene Begierde zu kontrollieren. Man kann sich gut auf die Übungen konzentrieren, weil man sich nur um sehr wenig zu kümmern braucht. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass unendlicher Reichtum in dieser Bescheidenheit verborgen liegt. Wenn man aufgrund dieser Erkenntnis jeden Tag mit großer Freude leben kann, dann ist das Ziel schon erreicht. Ein sehr bekannter Ausspruch im Zen lautet: „Jeder Tag ist ein guter Tag.“
Solche Lebensweise ist schon nicht mehr ein Mittel für die „Übung aufwärts“ (Kôjô), die nur die eigene Entwicklung fördert, sondern ist die Praxis nach der Erleuchtung, die „Übung abwärts“ (Kôge), bei der man durch seine normale Lebensgestaltung ganz natürlich den anderen Lebewesen dient.
Die Zen-Übung hat also zwei Funktionen; sie dient einmal als Mittel des Übenden zur Erlangung der Erleuchtung und andererseits als Praxis für den Erleuchteten. Der Inhalt bei den Übungen ist aber gleich. Der Meister lebt bis zum Tod mit seinen Schülern im Kloster, und er wohnt nicht viel anders als sie.
Man bemerkt aber schnell, dass die moderne Technik überhaupt nicht zum Alltag der Übungen passt. Die Lehre des Zen, zu der das richtige Verhältnis zwischen Natur und Mensch gehört, muss auch in einer natürlichen Lebensweise praktiziert werden. Wenn irgendein elektrisches Gerät ins Kloster eindringt, wird die harmonische Beziehung zwischen Mensch und Natur, die bei vielen Gelegenheiten während der Alltagsübungen, wie z.B. beim Kochen, verwirklicht wird, schnell zerstört. Früher brauchte man darüber nicht nachzudenken, aber heutzutage muss man auch auf diese Umstände achten.
Die o.a. Beschreibung über die Erziehungswirklichkeit verdeutlicht zwei wichtige Merkmale, nämlich dass das ganze Klosterleben selbst untrennbar mit der Erziehung verbunden ist und dass der Zenmeister dabei eine leitende Rolle spielt, während er auch selber noch übt. Die Begründung des ersten Merkmals kann man in den drei Lernfaktoren der buddhistischen Praxis finden. Der Tagesablauf nach den strengen Regeln ist die Verwirklichung der Gebote, die über die moralischen Vorschriften hinaus die konkrete Lebensweise bestimmen, damit der Übende die richtige Weisheit aufgrund der richtigen Sammlung erlangen kann. Weil jede Handlung im Alltag als Praktizierung des Dogmas betrachtet wird, darf sich der Übende nie nachlässig mit einer Aufgabe beschäftigen, wie beispielsweise einfach nur essen oder sich nur einfach zu waschen.
Dieses Merkmal der Ganzheit der Übung wirkt sich auch auf den zweiten Punkt aus. Der Zenmeister als Bodhisattva lebt und übt mitten unter den Übenden. Es wird geglaubt: Alle seine Handlungen manifestieren direkt die buddhistische Wahrheit, und deshalb kann er ohne verbale Anweisung die Übenden leiten. Diese starke Betonung der Intuition gehört auch zum Erziehungsaspekt buddhistischen Dogmas.
Die „Zehn Ochsenbilder“ sind Zeichnungen, die vermutlich in der letzten Hälfte des 12. Jahrhunderts von Meister Kakuan in China geschaffen wurden, um den Übungsprozess im Zen-Buddhismus zu veranschaulichen. Es hatte einige frühere Versionen der Bilder gegeben, in denen auch schon die Phasen der Übung mit dem Zähmen eines Ochsen verglichen wurden. Diese Zeichnungen waren eng mit der Entstehung der Kôan-Übungen im Zen- Buddhismus verbunden. Das Arbeiten mit den Kôans bedurfte nämlich einer methodischen Führung, die nicht spontan, sondern zielbewusst und effektvoll erfolgen sollte. Kakuan fasste alle diese Bilder zusammen und fügte noch zwei zum Schluss der Reihe hinzu. Seither werden sie als eines von den vier großen Werken der Zen-Literatur in China und in Japan angesehen. Dies macht deutlich, warum die Bilder bis heute die Rolle eines „Curriculums“ in der Rinzai-Schule spielen. Im Folgenden wird versucht, jedes Bild der Reihe nach sowohl vom buddhistisch-dogmatischen als auch vom pädagogischen Gesichtspunkt her zu interpretieren.
Einzelne Übungsphasen
Das 1. Bild: Nach dem Ochsen suchen
Das erste Bild zeigt, wie ein Hirtenjunge alleine auf einem Feld steht. Er hat seinen Kopf gedreht, um nach dem weggelaufenen Ochsen zu suchen. Das Fehlen und die Suche sind das wichtige Motiv in diesem Bild. Die Betonung liegt auf der Abwesenheit des Haustiers. Bis dahin war er sich des Tieres nie explizit bewusst. Der Ochse war immer da, und der Junge kümmerte sich nicht besonders um dessen Existenz. Plötzlich ist diese Harmonie verloren gegangen. Angst erfasst den Jungen. Er beschließt, den Ochsen zurückzuholen. Das ist der Anfang der Geschichte. Wie ist sie zu deuten? Es ist selbstverständlich, dass der Junge den Übenden symbolisiert und seine Suche den Übungsprozess. Was aber soll der Ochse bedeuten?
In Indien wurde der Ochse als heiliges Tier und Symbol der Erleuchtung betrachtet, aber in China änderte sich sein heiliger Charakter. Dort lebten und arbeiteten die Menschen immer mit den Ochsen zusammen, und der Ochse wurde ein Teil des alltäglichen Lebens. In keinem Fall kann der Ochse also entweder das Phänomen der Erleuchtung oder die reine Übungstechnik symbolisieren. Er drückt nur aus, was von Anfang an da ist, was im Alltag stets den Menschen begleitet. In der buddhistischen Terminologie weist er auf die „Buddha- Natur“ hin. Auf den pädagogischen Charakter dieser Bilder bezogen, bedeutet der Ochse das zu verwirklichende Selbst, das eigentliche Selbst bzw. das „wahre Selbst“, wie es Ueda nennt.
Daraus ergibt sich: Die notwendige Motivation für die Übung erhält man dann, wenn man das eigene „wahre Selbst“ vermisst. Man stellt fest, dass etwas im alltäglichen Leben nicht stimmt und dass man in diesem Zustand nicht mehr leben kann. Nun beginnt die Suche nach dem Eigentlichen, das irgendwo auf einen wartet. Dieser Anfangszustand wird im buddhistischen Dogma als die Entstehung des Bodhi-Geistes erklärt. Jedoch ist er zunächst nur die Betrachtungsweise des Übenden.
Tatsächlich aber ist er bereits nichts anderes als dieses Selbst, welches die Suche dynamisch einleitet. Man kann gar nicht anders handeln. Unabhängig von dem Willen des Übenden führt es ihn auf einen langen Weg. Die Initiative geht also nicht von dem Übenden aus, sondern vom „wahren Selbst“. Für Außenstehende erscheint der sich auf den Weg Begebende sehr irrational. Das trifft aber mehr oder weniger auch auf andere religiöse Verhaltensweisen zu.
Das erste Ochsenbild verweist auf zwei Merkwürdigkeiten: Erstens ist das zu verwirklichende Selbst das ursprüngliche Selbst. Der Junge hatte einmal den Ochsen zu Hause, nun will er ihn zurückgewinnen. Die Selbstverwirklichung in diesen Bildern bedeutet, zum Ursprung zurückzukehren. Im Vergleich zur herkömmlichen Bildung, bei der man das gegenwärtige Selbst aufhebt, um etwas „Besseres“ an seine Stelle zu setzen, geht es beim Zen um etwas anderes. Zweitens ist der Kommentar von Kakuan zu diesem Bild sehr ironisch. Er sagt wörtlich: „Von Anfang an nicht verloren.“ Er erklärt, dass das Verlieren des wahren Selbst nur eine Illusion ist und dass die Suche danach eigentlich überflüssig ist. Je weiter man geht, desto mehr verirrt man sich. Das heißt also, dass die ursprüngliche Kraft, die einen zur Selbstverwirklichung zu führen scheint, in Wahrheit auch eine Einbildung ist und auf einer falschen Denkweise des Menschen beruht, die „auf das Unterscheiden zwischen Ja und Nein und das Urteilen über Gut und Böse“ fixiert ist. Wenn man darüber nachdenkt, den Ochsen verloren zu haben bzw. ihn wiederzufinden, befindet man sich schon im Irrtum.
Zusammenfassend kann man sagen: Die Bildsamkeit des Menschen beruht darauf, dass alle Menschen schon das „wahre Selbst“ in sich haben, das allerdings erst mithilfe der differenzierenden Sprache („gut“/„böse“ etc.) entwickelt werden kann. Denn diese Übungsreise wird durch den bewusst gewordenen Verlust des Ochsen hervorgerufen, nämlich durch die bewusste Unterscheidung zwischen Sein und Nicht-Sein. Wichtig dabei ist, dass ohne die Kraft des wahren Selbst die Übung überhaupt nicht beginnt, dass aber dieser Beginn, wie oben dargelegt, auf einem fundamentalen Irrtum basiert. Diesen Widerspruch muss der Übende zunächst einmal übernehmen, und die Auseinandersetzung damit bleibt stets der Leitfaden der Übung.
Das 2. Bild: Die Spuren erblicken
Der Junge steht wieder allein auf dem Feld. Der Hintergrund ist verschieden vom ersten Bild, hohe Berge sind in der Ferne zu sehen. Er ist sehr wahrscheinlich weit weg von zu Hause. Jetzt findet er aber die Spuren des Ochsen. Kakuan kommentiert: „Mithilfe der Sûtren versteht man das Prinzip. Durch die Lehre findet man die Spuren.“
In dieser Phase geht es um die Rolle der theoretischen Lehre. Sie zeigt dem Übenden die Richtung an. Bei der Suche nach dem wahren Selbst ist sie grundsätzlich nützlich. Kakuan verwendet hier das Wort „verstehen“. Man erfasst beispielsweise die „Drei Dharma- Formeln“ und die „Vier Wahrheiten“ mit dem Verstand und bekommt so den Weg zur Wahrheit gewiesen.
Im Buddhismus werden Lehren und Lernen durch den Intellekt im herkömmlichen Sinne und das dadurch erlangte Wissen, wie sie in diesem Bild symbolisiert werden, nicht gering geschätzt. Trotzdem ist die theoretische Lehre schließlich bloß die Spur und nicht die Wahrheit selbst. Wenn der Übende beides verwechselt, wird die Lehre sogar schädlich für ihn. Denn er ist mit der Spur so zufrieden, dass er nicht mehr nach der Wahrheit sucht. Auch die dogmatische Lehre enthält eine solche Gefahr.
Wir finden hier denselben Widerspruch wie beim ersten Bild. Dort beginnt die Übungsreise aufgrund der Unterscheidung durch die Sprache. Die Sûtren und die Lehren sind die sprachlichen Entwicklungsstufen. Hier ist die Situation genau gleich. Ohne die Hilfe der Lehre kann man nicht weiterkommen, aber sie ist doch die Ursache einer Wanderung, die nicht notwendig ist, denn von Anfang an war ja (das Gesuchte) gar „nicht verloren“.
Das 3. Bild: Den Ochsen erblicken
Der Junge findet jetzt den Ochsen, erblickt zunächst jedoch nur seinen Schwanz. Er läuft mit aller Kraft hinter ihm her. Im Hintergrund ist zu erkennen, dass es gerade Frühling ist. Der Wind weht milde in den Blättern des Weidenbaumes. Diese Landschaft steht im Kontrast zum ersten Bild, wo die einsame Stimmung des Spätherbstes vorherrscht.
Der Übende trifft auf das (echte) wahre Selbst, allerdings zunächst nur auf einen kleinen Teil, der zudem noch von ihm entfernt ist. Er ist so glücklich, dass die schöne Umgebung sein Inneres widerspiegelt. Kakuan kommentiert: „Mithilfe der Stimme springt man hinein. Wo man hinsieht, trifft man auf den Ursprung.“
Bei der Begegnung zwischen dem Übenden und dem wahren Selbst spielen das Hören und das Sehen eine wichtige Rolle. In der zweiten Phase hat man die Lehre gelernt. Dieses Lernen führt zwar zum wahren Weg, aber es ist nicht die Wahrheit selbst. Alles Intellektuelle bedeutet also in diesem Falle weniger als die einfachste Sinneswahrnehmung.
Beim Zen wird immer betont, dass man die Welt stets ohne Vorurteil direkt begreifen muss. Das Vorurteil entsteht aus der Sprache. Nicht nur beim Zen, sondern auch in der allgemeinen Sprachforschung ist das Folgende schon eine grundlegende Erkenntnis geworden: Durch jedes einzelne Wort differenziert man die Dinge und Phänomene nach dem vorgegebenen Muster seiner Sprachgemeinschaft und begreift die Sachverhalte in einer Form, die schon weit entfernt ist von der lebendigen Wirklichkeit. Um die wahre Natur der Dinge und das Selbst zu erkennen, muss die Sprache überwunden werden. Die Funktion der Sinne muss neu erkannt werden.
Im Vergleich zur Anwendung in der herkömmlichen Didaktik ist das Verhältnis zwischen der sprachlichen Anleitung und der körperlichen Praxis beim Zen radikal anders. Während bei der Ersteren sich die theoretische Lehre und die Praxis im Laufe des Lernprozesses ergänzen, erreicht man beim Zen nie das Ziel, ohne das verbal Gelernte zu vergessen. Man muss dem eigenen Körper, insofern er als undifferenzierte Einheit von Körper und Geist gedacht wird, völlig vertrauen. Man muss lernen, Dinge ohne eine Benennung zu sehen und Laute ohne eine Bestimmung zu hören.
Das scheint schwer zu sein, aber in der Tat wird einem dieses Lernen schon bei der Geburt als menschliche Natur mitgegeben. Das wird als ein Beweis der aktiven Wirkung der Bildsamkeit der Buddha-Natur angesehen. Jedem ist die Fähigkeit zur Selbstbildung angeboren. Dieses Bild zeigt diesen Sachverhalt. Der Junge findet den Ochsen nicht, sondern der Ochse zeigt sich ihm. Er ruft den Übenden. Man muss nur seine Stimme hören und seine
Gestalt sehen. Wenn man mit allen Differenzierungen aufhört, wird einem die ursprüngliche Welt von sich aus plötzlich eröffnet.
Das 4. Bild: Den Ochsen fangen
Endlich fängt der Junge den Ochsen. Das einstige Haustier ist aber nach der langen Zeit der Freiheit wieder wild geworden. Es gehorcht dem Jungen nicht mehr. Jetzt muss er es wieder streng zähmen. Er zieht die Zügel sehr stark an, weil der Ochse irgendwo anders hingehen will. Die Spannung der Zügel beherrscht hier das Bild.
Jetzt fängt man die harte Übung an, um sich wieder mit dem wahren Selbst zu harmonisieren. Aber was bedeutet die Wildheit? Es ist, wie im vorigen Bild, wiederum die Projektion des Übenden. Wild ist nicht der Ochse, sondern der Übende selbst, noch genauer, das Ich des Übenden.
Von dieser Phase an bis zur sechsten Phase wird die Auseinandersetzung zwischen dem Ich und dem wahren Selbst eines Individuums besonders thematisiert. Natürlich kann das Individuum im Grunde nicht so aufgeteilt werden. Wie schon im Kommentar zum ersten Bild erwähnt, gibt es am Anfang keine Differenzierung. Erst wenn man bemerkt, dass einem das wahre Selbst fehlt, entsteht das Ich, das Subjekt des Individuums, das der Ursprung aller Differenzierungen ist. Mit „Individuum“ ist hier eine konkrete, durch Raum und Zeit bestimmte Person gemeint.
Nun war das Ich weit vom richtigen Weg abgekommen, es tat, was es wollte. Es ist deshalb für den Übenden sehr schwer, seine Lebensweise noch einmal richtig einzustimmen. Im Kommentar wird diese Situation so dargestellt: „Der Ochse kann das duftende Gras nicht verlassen.“ So sieht es der Junge. Aber eigentlich ist er es, der das frühere Leben vermisst und nicht der Ochse. Das wahre Selbst ist an sich gehorsam und bildsam. Es ist der Mensch selbst, der sich die Bildsamkeit verdirbt. Jetzt muss er sich sehr darum bemühen, sich mit dem wahren Selbst zu vereinigen, was als Selbstbildung verstanden werden kann. Die Spannung der Zügel drückt diese Schwierigkeit aus. Es ist die Phase des inneren Kampfes. Man stellt sich vor, dass der Ochse wegläuft und man ihn festhalten muss. Die Tatsache ist aber: Der Ochse hält einen fest. Es ist das wahre Selbst, das die ganze Zeit die Initiative der Erziehung ergreift.
Das 5. Bild: Den Ochsen zähmen
Der Junge und der Ochse gehen harmonisch miteinander. Jetzt brauchen die Zügel nicht mehr angezogen zu werden. Wo der Mensch hingeht, folgt der Ochse auch hin. Sie sind noch getrennt, und die Zügel können noch nicht ganz losgelassen werden, es gibt aber keine Spannung mehr zwischen dem Menschen und dem Ochsen, beide sind sehr gelassen.
Dieses Bild steht im großen Kontrast zum vorhergehenden Bild. Der wilde Kampf ist der Ruhe gewichen. Der Junge hat gelernt, zum Ursprung zurückzukehren. Ursprung bedeutet: Ohne Worte hört er, ohne Worte sieht er, ohne Worte handelt er. Im Kommentar von Kakuan dazu heißt es: „Noch ehe ein Gedanke auftaucht, folgt ihm ein anderer nach. Durch das Erwachen wird die Wahrheit erlangt. Durch den Verlust des wahren Selbst entsteht der Irrtum.“
Jetzt gibt es zwar noch etwas Abstand zwischen dem Ich und dem wahren Selbst, aber sie kommen gut miteinander aus. Was man tut, wird unmittelbar richtig, wird jedoch stets auch als „das richtige Handeln“ bewusst erkannt. Der Übende ist noch nicht frei von der Reflexion darüber. Die Zügel im Bild repräsentieren das Bewusstsein, das die beiden gleichrangigen Elemente, das Ich und das wahre Selbst, verbindet. Einmal taucht das wahre Selbst zur Oberfläche auf, dann folgt ihm das Ich schnell hinterher. Ein andermal herrscht das Ich vollkommen, dennoch wird es vom wahren Selbst ganz natürlich unterstützt.
Das 6. Bild: Auf dem Ochsen nach Hause reiten
Der lange Kampf ist zu Ende. Der Junge reitet nun auf dem Ochsen und spielt die Querflöte. Er hat keine Zügel mehr in der Hand. Der Hirte und der Ochse sind eine vollkommene Einheit. Man kann sich vorstellen, dass im Abendrot eine ländliche Melodie klingt. Eine vertrauensvolle Stimmung herrscht im Bild, denn der Junge weiß, dass der Ochse nach Hause geht. Dabei braucht er dem Tier nicht den Heimweg zu zeigen, sondern kann ihm völlig vertrauen. Wo die beiden einmal gewesen sind, dorthin gehen sie nun zusammen.
Das Ich und das wahre Selbst sind jetzt im Individuum vollkommen vereinigt, und auch die Reflexion, mit der das Ich sich kontrolliert, ist verschwunden. Gehen, stehen (im Japanischen: „wohnen“), sitzen und liegen, alles, was man tut, ist sofort das wahre Handeln. Man denkt nicht mehr darüber nach. Ein großes Selbstvertrauen wurde einem geschenkt. Die Bilder drei bis sechs thematisieren in besonderem Maße den stufenweisen Aufbau der Übungen im Sinne von Kôjô („Übung aufwärts“). Sie sind daher methodisch sehr informativ. Im Folgenden wird versucht, das konkret anhand des Beispiels der Atmung beim Zazen zu erklären.
In der ersten Phase (im dritten Bild: Den Ochsen erblicken) lernt man in der Praxis, die Wahrheit ohne Worte mit dem eigenen Körper zu erlangen. Man sitzt im Lotussitz und atmet gemäß der Anweisung. Das ist der Anfang der Übung im engeren Sinne.
In der nächsten Phase (im vierten Bild: Den Ochsen fangen) stimmt man die Atmung ein, z.B. durch Sûsokukan. Zwar sitzt man ruhig, aber oft tauchen die verschiedensten Gedanken auf und stören das Zazen. Also zählt man von eins bis zehn. Mit diesem kräftigen „Zahlenschwert“ schneidet der Übende alle überflüssigen Gedankenströme ab. Jedoch gelingt das nicht immer. Man muss sich ständig darum bemühen, sich trotz aller Ablenkung mit dieser Methode selbst zu kontrollieren. Das entspricht dem Anziehen der Zügel im Bild.
Langsam gewöhnt man sich daran. Die Atmung wird ruhiger und länger, beim Zählen wird man nicht mehr so sehr abgelenkt. Nun beginnt man das Zuisokukan, bei dem man die eigene Atmung mit dem inneren Auge verfolgt. Es geht nur darum, das Einatmen und Ausatmen zu spüren. Das ist die Phase des fünften Bildes: Den Ochsen zähmen. Der wilde Zustand ist vorbei, aber die Zügel müssen noch gehalten werden.
Beim sechsten Bild (Auf dem Ochsen nach Hause reiten) wird die Atmung vollkommen eingestimmt. Jetzt braucht sich der Übende nicht mehr der Atmung bewusst zu sein. Die Atmung atmet selbst. Man geht völlig im Aus- und Einatmen auf. Die ganze Welt atmet. Die Grenze zwischen dem eigenen Körper und der Umwelt ist verwischt. Es gibt nur die eine große Atmung und die in ihr manifestierte Wahrheit.
Diese Übungsphasen gehören auch zu vielen Arten der mit „-dô“ bezeichneten japanischen Künste.14 Darauf wird später eingegangen.
Das 7. Bild: Der Ochse ist vergessen, der Mensch bleibt
Der Junge ist zu Hause. Es scheint zwischendurch Nacht geworden zu sein. Der Vollmond geht über den Bergen auf. Der Junge sitzt vor dem Haus, er faltet die Hände in Richtung auf den scheinenden Mond. Das Bild ist von einer ruhigen und friedlichen Stimmung erfüllt. Der Ochse ist nicht mehr zu sehen.
Man fragt sich nun, wo er ist. Bis zum sechsten Bild stand er stets im Mittelpunkt des Interesses. Der Junge hatte seine Reise begonnen, weil der Ochse verschwunden war, aber jetzt ist er sehr zufrieden ohne das Tier und genießt nur den Mondschein. Er scheint alle Mühe schon längst vergessen zu haben. Der Ochse könnte, wie gewohnt, im Stall sein.
Wie der Kommentar zum ersten Bild sagt: „Von Anfang an nicht verloren.“ Unterwegs wurde das wahre Selbst methodisch thematisiert. Man harmonisierte sich völlig mit ihm und ist sich nun dieses Selbst nicht mehr bewusst. Es ist überflüssig geworden und wurde aufgegeben. Im Ergebnis gibt es also keinen Unterschied zum Ursprung. Das ist der widersprüchliche Charakter der Erziehung im Zen.
In der Pädagogik ist die Methodik konkretes Mittel zu einem Ziel. Beides sind verschiedene Dinge, und die Methodik muss dem Erziehungsziel dienen. Beim Zen aber wird die Methodik ganz anders gesehen. Im Kommentar zum 7. Bild heißt es: „Es gibt keine zwei Dharmas. Nur vorübergehend wurde der Ochse zum Thema.“
Das wahre Selbst liegt immer ursprünglich in einem methodischen Rahmen schon vor und ist in erster Linie durch die Übung zu verwirklichen. Die Wahrheit kommt nirgendwo anders als in der Praxis zum Vorschein. Wenn man jedoch erkennt, dass alles Handeln unmittelbar das wahre Selbst manifestiert, dann braucht man das ganze methodische Verfahren nicht mehr. Es gibt keine andere Wahrheit als die Methodik, aber sie ist nur Mittel zum Zweck, und schließlich muss auch sie aufgegeben werden.
Jetzt stellt sich noch eine Frage. Angenommen, der Junge ist wieder ohne den Ochsen, er ist also wieder zum Ursprung zurückgekehrt, wozu dann alle seine Mühe? Ist der Zustand zwischen dem Vorher und dem Nachher wirklich gleich? Um diese Fragen zu beantworten, muss man die Tatsache beachten, dass der Junge zu Hause ist. Zu Hause sein heißt da sein, wo man eigentlich hingehört. Im Ursprung gibt es keine Differenzierung, und es verschwindet sogar die Bestimmung „keine Differenzierung“. Es gibt nichts als die Wahrheit. Der Mond scheint herrlich, und der Junge sieht dessen klares Licht. Er weiß zwar, dass der Mondschein und er selbst nicht verschiedene Dinge sind, aber er hat vergessen, dass er es weiß. Er faltet einfach die Hände in Verehrung und genießt damit die harmonisierte Welt durch sein Tun. In dieser Darstellung kann man erkennen, wie der Glaube praktiziert wird. Der Junge akzeptiert jetzt friedlich alles, was geschieht. Er ist so sicher, dass er nicht mehr reflektiert. Wie ist das möglich?
Er glaubt, dass, wo immer er sich auch befindet, eine schützende Hand über ihm ist. Dieser unerschütterliche Glaube resultiert daraus, dass es keine Differenzierungen mehr gibt. Eigentlich wird diese Sicherheit durch die Buddha-Natur selbst bewirkt. Hier liegt der Unterschied zum Anfangszustand. Das Ergebnis der langen Reise ist der Glaube, entstanden aus der Übungspraxis, nämlich aus dem Zähmen des Ochsen.
Shinran, der Gründer der Jôdo-shin-Schule, schreibt im „Kyôgyôshinshô“, dass man durch den Glauben sehr friedlich leben kann.17 Im Zen, vor allem in der Rinzai-Schule, wird der Vorteil des Glaubens dieser Art nicht besonders erwähnt. Vielmehr wird betont, dass der Glaube Triebkraft bei der Übung ist. Üben heißt, den Glauben zu praktizieren. Beim Üben kann also der große Glaube entspringen, der alles in die Harmonisierung führt.
In der Tat sind beide Zustände, das Vorher und das Nachher, gleich, aber der Letztere kann auf diese Weise als die Verwirklichung des Glaubens angesehen werden. Diese Gleichheit ist eine Tatsache und weist auf die Legitimität der Menschenwürde hin: „ Alle Menschen sind eigentlich von Anfang an Buddhas.“ Der praktizierte Glaube beweist dies unmittelbar, weil der Buddha ein normaler Mensch ist. In diesem Sinne hat jeder Mensch einen wunderbaren Wert.
Das 8. Bild: Mensch und Ochse sind beide vergessen
Die Reise des Jungen führt nun in einen seltsamen Zustand. In diesem Bild ist weder Mensch noch Ochse zu sehen. Was bis zur letzten Phase das Thema war, ist hier völlig verschwunden. Es gibt nur einen Kreis. Er war aber von Anfang an in den Bildern vorhanden und bildete den Rahmen für die einzelnen Etappen der Geschichte. Weil die dargestellten Figuren nun weg sind, wird er plötzlich so deutlich, dass er den gesamten Raum einnimmt.
Jetzt erfährt man einen großen Sprung nach vorne. Die bisherige Entwicklung wird durch das „Nichts“ gründlich vernichtet. Im vorigen Bild erreichte der Junge eigentlich die Endphase seiner Suche. Das wahre Selbst verkörpert sich im Individuum. Was er tut, ist unmittelbar das Handeln des Dharmas. Alles ist natürlich. Er bleibt friedlich in der universalen Einheit.
Doch diese Einheit muss aufgebrochen werden, um die wahre Freiheit des Selbst zu verwirklichen. Wenn man trotz der wunderbaren Harmonisierung mit der Welt noch ein Individuum bleibt, wird man nicht von sich selbst befreit. Das Ziel des Buddhismus ist es, die absolute Befreiung von allem zu erlangen. Deshalb muss das „große Ich“ durch das Nichts ersetzt werden, das über das Sein und das Nichtsein oder die Weltlichkeit und die Heiligkeit hinausgeht.
Vom ersten bis zum sechsten Bild war die dynamische Kraft, die das einzelne Bild zur nächsten Phase hin treibt, eigentlich die Selbstverneinung. Das Individuum ist in jeder Phase noch nicht reif genug. Der Kampf gegen das Ich muss stets durchgeführt werden und das Selbst muss immer noch aufgehoben werden. Dieser Prozess ist eine normale Entwicklung bei der Erziehung und der Bildung. Im siebten Bild kommt der Fortschritt zu einem Ende, weil es keine Spur des wahren Selbst mehr gibt. Im achten Bild stellt sich aber die vollkommene Selbstverneinung dar, die weder Selbst noch Verneinung enthält. Das absolute Nichts, das sogar die Selbstverwirklichung überwindet, ist die radikale Forderung des Buddhismus, aber es hat auch eine große Bedeutung für die Entwicklung des eigenen Selbst jedes Menschen.
Diese Entwicklung beruht auf der Suche nach etwas Höherem, denn das jetzige Selbst ist nicht das wahre. Dies wird zunächst thematisiert. Man setzt das vorübergehende wahre Selbst als Ziel voraus und macht einen ersten Schritt, sich ihm zu nähern. Durch die ständige Selbstverneinung versucht man, dem Ziel möglichst nahe zu kommen. Wenn man sich aber einmal mit dem erreichten Stadium der Selbstverwirklichung zufrieden gibt, stockt die Entwicklung. Deshalb muss das verwirklichte Selbst endlich vernichtet werden, obwohl man zum Schluss herausgefunden hat, was das wahre Selbst ist. In dieser absoluten Befreiung manifestiert sich das undefinierbare, dynamische und kreative Selbst aus dem ursprünglichen Nichts. Die echte Kreativität entsteht aus solcher Freiheit von allen Figuren (d.i. Paradigmen).
Man schafft etwas Eigenes in irgendeiner Form. Dabei ist man bei der Art und Weise des Selbstausdrucks, also der Auswahl des Paradigmas, völlig frei. Man ist jetzt wahrhaft Herr seiner selbst.20 Das ist das Endziel der persönlichen Entwicklung. Auf diese Weise muss ein Paradigma trotz seiner leitenden Funktion bei der Suche nach dem wahren Selbst zum Schluss aufgegeben werden.
Wie kann man aber diese Ebene erreichen? In den „Zehn Ochsenbildern“ wird gezeigt, dass dies nur durch die Gesamtheit der körperlichen Übungen möglich ist. Man zieht die Zügel an, bändigt den Ochsen und reitet ihn. All dies ist die Tätigkeit des ganzen Körpers und Geistes, die man nicht mit dem Kopf erlernen kann. Der letzte Schritt zum Nichts muss genauso, d.h. ohne Rückgriff auf den Verstand, verwirklicht werden. Wichtig ist es dabei, dass der Zustand des Nichts erst unmittelbar nach der langen Übung entsteht. Es ist nämlich klar, dass man im Grunde genommen sonst nur versuchen würde, bestehende Paradigmen durch neue Paradigmen zu ersetzen.
Das 9. Bild: Zum Anfang zurückkehren und zum Ursprung heimfinden
Mitten im Bild fließt ein Strom. Am Ufer steht ein Pflaumenbaum in Blüte. Kein Mensch ist zu sehen, nur die schöne Natur ist da. Im Kommentar steht: „Der Strom fließt aus sich selbst unendlich, die Blüte blüht aus sich selbst rot.“
Hier wird eine malerische Landschaft dargestellt, die kein Objekt der Wahrnehmung des Menschen ist. Das Dasein des Stroms und der Blüte unterscheidet sich nicht vom Sehen und Gesehenwerden. Es gibt nur das absolute Sein, das weder Sein noch Nichts ist. Dieser Zustand ist nichts anderes als der leere Kreis des achten Bildes, in dem alle dualistischen Gegensätze restlos verschwunden sind. Das neunte Bild stellt die absolute Bejahung dar, das achte die absolute Verneinung, beide sind dynamisch austauschbar. Das neunte Bild bedeutet deshalb eigentlich keine neue Phase, es ist eine Variation der Seinsweise des Nichts. Dennoch wird diese Phase hinter der achten eingeordnet. Denn man muss einmal alles im Nichts erkennen, um dann wieder zur Welt zurückzukehren. Der Ort, an dem man nun leben muss, ist der gleiche Ort, an dem man am Anfang lebte, so wie es der Titel dieses Bildes sagt. Der unendliche Strom ist immer schon dagewesen und die rote Blüte auch. Alles drückt direkt das wahre Selbst aus, aber es bedarf keines erkennenden Subjektes.
Im siebten Bild wurde die friedliche Natur bereits dargestellt. Der Junge betrachtete zufrieden den Mond, der nicht unterschiedlich von ihm selbst ist. Die große Harmonie des eigenen Selbst mit allen Geschöpfen ist da schon vorhanden. Im Vergleich dazu fällt hier auf, dass trotz der schönen Natur kein Mensch anwesend ist. Das wahre Selbst braucht nicht mehr das Subjekt, das sich als das eigene Selbst erkennt. Man lebt in der Welt, in der es nichts gibt, was nicht man selbst ist. Der Mensch ist nicht nötig, damit die Welt von sich aus noch reiner und wunderbarer wird. Der Strom fließt immer schon, die Blüte blüht nur rot: das Sein an sich.
Hier zeigt sich die absolut variationsfreie Kreativität. Hier kann die Aussage, dass der Berg der Berg ist, gleichberechtigt neben der Aussage stehen, dass der Berg nicht der Berg ist. Der Widerspruch manifestiert sich ganz selbstverständlich im dynamischen Wechsel zwischen dem leeren Kreis und der Natur. Absolut frei zu sein ermöglicht, sich aller Paradigmen nach Belieben zu bedienen. Aus dieser Freiheit entstehen die kreativen und eigentümlichen Aktivitäten der Menschen. Alles ist einzig und einmalig im Sein. Das ist der begreifbare Ausdruck des unbegreiflichen Nichts. Die Personalität und der Wert des Individuums können erst in diesem Sinne gewürdigt werden.
Das 10. Bild: In die Stadt gehen mit offenen Händen
Im Bild gibt es zwei Personen. Ein alter Mann hält eine Sake-Kanne in der Hand. Der dicke Bauch, die schäbige Kleidung und der große Bettelsack deuten an, dass er Hotei ist, der wandernde Heilige21. Mit diesem fröhlich lachenden alten Mann spricht ein Junge. Der Alte hat ihn vielleicht nach dem Weg gefragt; möglicherweise möchte der Junge auch einfach nur mit dem alten Mann reden und hat ihn deswegen angehalten.
Ein Treffen im Alltag in der Stadt ist hier dargestellt. Es ist reiner Zufall, aber als zugleich zielgerichtetes Ereignis anzusehen. Denn hier manifestiert sich das wahre Selbst zwischen Menschen, so wie es im vorigen Bild als die schöne Natur erscheint. Die beiden Seinsweisen sind Variationen des ursprünglichen leeren Kreises. Deshalb drücken das achte, das neunte und das zehnte Bild eigentlich nur einen einzigen Zustand aus. Merkwürdigerweise haben die letzten drei Bilder nichts mit dem Titel „Zehn Ochsenbilder“ zu tun, aber sie sind die notwendige Weiterentwicklung der vorigen Phasen, weil sie immer noch vom wahren Selbst handeln.
Nun ist das zehnte Bild das letzte der gesamten Reihe. Obwohl die letzten drei eigentlich gleichrangig sind, bedeutet die Position des zehnten etwas Besonderes. Die Dynamik des wahren Selbst wirkt jetzt zwischen den Menschen. Hier wird die Wirklichkeit der Überlieferung dargestellt, also die Struktur der pädagogischen Tätigkeit selbst. Wenn die „Zehn Ochsenbilder“ mit didaktischer Intention verfasst wurden, so müsste das letzte Bild das wichtigste der Serie sein, weil es den Abschluss der Entwicklung darstellt. Bis zu diesem Bild wird die einzelne Phase der Selbstbildung immer sehr konkret aufgezeigt, aber die Rolle des Erziehers wird dabei nicht erwähnt. Im Vergleich dazu drückt sich das Verhältnis zwischen dem Erzieher und dem Schüler hier direkt aus. Deshalb ist das zehnte Bild äußerst wichtig.
Wie entsteht hier der pädagogische Bezug? Der alte Mann sieht überhaupt nicht wie ein normaler Erzieher aus. Er lacht so lustig, dass er anscheinend das Leben voll genießt. Bei ihm findet man keine Spur davon, dass er heilig oder weise ist. Doch trotz seines bettelarmen Aussehens nimmt er gütige Rücksicht auf seine Mitmenschen. Der Hotei ist die Verkörperung des Bodhisattvas. Ein Junge trifft den alten Mann an einer Ecke in der Stadt, und in diesem Moment erhellt sich etwas beim Jungen. In diesem Erlebnis kann eigentlich nichts Konkretes weitergegeben werden. Der Alte lehrt nichts durch Worte und der Junge lernt auch nichts. Trotzdem mag sich der Junge aufgrund dieser Begegnung eines Tages entscheiden, die Suche nach dem Selbst zu beginnen. Also führt dieses Bild wieder zum ersten Bild zurück. So wie die Bilder insgesamt einen Kreislauf darstellen, repräsentieren sie den ewigen Gang des menschlichen Lebens. Dies muss als die Wirkung des zielgerichteten Ereignisses angesehen werden.
Übrigens ist der Junge nicht derselbe, der vom ersten bis zum siebten Bild zu sehen ist, und der alte Mann taucht selbstverständlich zum ersten Mal hier auf. Sie sind wieder Ausdruck des wahren Selbst und nichts anderes als der Fluss und die Blüte im vorigen Bild. Diese Begegnung ist deshalb die Manifestation der vollen dynamischen Kraft des wahren Selbst. Es ist immer der Leitfaden der Bildung und zeigt im letzten Bild seine Funktion zwischen den Menschen direkt und klar.
Welche Anweisungen gibt Dôgen dem Menschen, der mit dem Bodhi-Geist zu ihm kommt, um die Übungen zu beginnen? In dem berühmten Text im Kapitel „Genjô-Kôan“ des „Shôbôgenzô“ heißt es:
„Den Buddha-Weg zu lernen bedeutet, sich selbst zu lernen. Sich selbst zu lernen heißt, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen heißt, selbst von allen Phänomenen erleuchtet zu werden. Von allen Phänomenen erleuchtet zu werden heißt Ablassen von Körper und Geist, von sich selbst und anderen. Wenn du dieses Stadium erreicht hast, wirst du sogar von der Erleuchtung losgelöst sein, du wirst sie jedoch fortwährend haben, ohne an sie zu denken.“
„Das ‚Jetzt und Hier‘ ist die Natur des Dharmas. Die Natur des Dharmas ist ‚jetzt und hier‘. Die Kleidung anzuziehen und den Reis zu essen heißt Anziehen und Essen in der tiefen Natur des Dharmas. Die Kleidung ist die Verwirklichung der Natur des Dharmas. Der Reis ist die Verwirklichung der Natur des Dharmas. Das Anziehen ist die Verwirklichung der Natur des Dharmas. Das Essen ist die Verwirklichung der Natur des Dharmas. Wenn man keine Kleidung anzieht, keinen Reis isst, niemanden begrüßt oder die sechs Sinne nicht benutzt, gibt es keine Natur des Dharmas und man kann in die Natur des Dharmas nicht eindringen.“
Hier erweitert Dôgen die Übung auf alltägliche Handlungen. Der Grund dafür ist, dass sie alle Manifestation der Buddha-Natur sind.
Oft sagt der Zenmeister dem Schüler, „Wenn du gehst, dann gehe nur. Wenn du isst, dann iss nur.“ Wenn wir unser alltägliches Leben betrachten, sehen wir sofort, dass das tatsächlich äußerst schwierig ist. Beim Gehen oder Essen denken wir immer etwas anderes. Nach den Worten des Zenmeisters leben wir überhaupt nicht „hier und jetzt“.
Dies ist der Sinn der Form. Sich genau nach allen überlieferten Formen zu benehmen heißt, sich selbst abzutöten, es ist das „Abfallen von Körper und Geist“. In diesem Zustand manifestiert sich das wahre Selbst, und das ist nichts anderes als die Erleuchtung. Eigentlich aber ist jedes Stadium des inneren Kampfes um die Beherrschung der Form genauso vollkommen wie der letzte Schritt, die Loslösung von der Erleuchtung. Also muss die Übung auch nach der letzten Phase immer weiter fortgesetzt werden. Es gibt keine andere Praxis, um Buddha zu werden, außer dieser endlosen Wiederholung der Form.
Das vollkommen Individuelle (die Farbe) kann erst entstehen, wenn das wahre Selbst (die Leere) verwirklicht worden ist. Die Selbstaufgabe wird nämlich unmittelbar zum Selbstausdruck. Auf dieser widersprüchlichen Ebene können alle Zen-Künste ihren Sinn voll erfüllen.
In Japan gibt es zahlreiche mit „-dô“ bezeichnete Künste, die zumeist vom Zen-Buddhismus beeinflusst wurden, z.B. Sadô (Teezeremonie) , Kadô (Blumenstecken) , Shôdô (Kalligraphie) und Kôdô (Weihrauchkunst) . Sie werden unter dem Begriff Geidô (Kunstweg) zusammengefasst, dessen enge Definition heutzutage oft Nô, Kabuki7, Tanzen, Musik und andere Vergnügungskünste bedeutet. Auch die Kampfsportarten, wie Jûdô, Kyûdô (Bogenschießen) und Kendô (Schwertfechten), gehören zu diesen „-dô“–Künsten und werden in ihrer Gesamtheit als Budô (Kampfkünste) bezeichnet.
Der Leitgedanke bei diesen Künsten hat eine enge Beziehung zum Zen, beispielsweise ist ihr Übungsprozess dem der Rinzai-Schule sehr ähnlich. Das Wesen der Form, die Körperlichkeit in der künstlerischen Darstellung und die Vereinigung von Zweck und Mittel in der Übung spielen, wie bei der Sôtô-Schule, eine wichtige Rolle.
Um die Pädagogik des Zenmeisters zu klären, ist es deshalb sinnvoll, einmal einen Überblick über solche konkreten Anwendungsformen der Zen-Übungen zu geben, die heute noch repräsentativ sind für die traditionelle japanische Erziehung und Bildung.
1. Der Ausgangspunkt des Dô
Zuerst wird erklärt, was der Begriff „Dô“ bedeutet. „Dô“ ist ein im Japanischen abgewandeltes, ursprünglich chinesisches Wort: „Tao“ (Weg). „Tao“ ist ein wichtiger Begriff im Konfuzianismus und Taoismus, allerdings mit etwas unterschiedlicher Bedeutung in diesen beiden Richtungen.
Konfuzius sagte: „Wenn der Mensch am Morgen Tao erfahren kann, kann er zufrieden sein, auch wenn er am Abend stirbt.“ („Gespräche“, Kap. 4)
Tao meint hier den moralischen Weg, den der Mensch gehen (eigentlich „praktizieren“) muss. Dagegen erklärt Laotse den Weg folgendermaßen:
„Das Tao, das genannt wird, ist kein ewiges Tao. Der Name, der genannt wird, ist kein ewiger Name.“ („Tao Te King“, Kap. 1) „Aus Tao entsteht eins. Aus eins entstehen zwei. Aus zwei entstehen drei. Aus drei entstehen tausende Dinge.“ („Tao Te King“, Kap. 42)
Für Laotse ist das Tao kein menschlicher Weg, sondern der namenlose Ursprung aller Phänomene. Er nennt dieses Tao auch „Mu“ (Chinesisch „Wu“). Da sich der Zen- Buddhismus auf der Basis des Konfuzianismus und Taoismus entwickelte, wurde er von ihnen beeinflusst. Das Wort „Dô“, das sich in den Zen-Künsten findet, ist die Synthese der beiden Tao-Begriffe. Sie bestimmten auch die Übungsmethodik des Zen sehr.
Zuerst bedeutet Dô einen konkreten Weg. Man geht Schritt für Schritt auf seinem Weg, die Schilder beachtend. Manchmal blickt man zurück und sieht die eigene Spur, was einen wohl ermuntern kann. Dô bezeichnet also eine recht praktische Methodik, die in pädagogischer Absicht stufenweise systematisiert wird. Dô enthält auch ethische und ästhetische Elemente, weil seine Praxis sich darum bemüht, diese Elemente möglichst vollendet darzustellen, wie wir am Beispiel von Dôgen gesehen haben.
Dies ist der „menschliche“ Aspekt: Man muss Dô so praktizieren, wie einst Konfuzius Tao als „den Weg des Menschen“ erklärte. Jedoch hat Dô noch einen anderen Aspekt, und zwar einen „übermenschlichen“. Dô ist die absolute Wahrheit, die gleichzeitig Ursache und Wirkung von allem ist, und leitet ganz autonom auch den Menschen, der den Weg geht. Es sieht zwar so aus, als ob der Mensch den Dô praktiziert, tatsächlich aber wird er von Dô bewegt.
Nehmen wir jetzt den Dô-Begriff von Zeami als Beispiel. Zeami, der Gründer des Nô- Theaters, hinterließ mehrere Werke, um seinen Schülern Anweisungen zu geben.21 Dô ist darin ein wichtiger Begriff und taucht oft auf, wobei Zeami ihn wohl zum ersten Mal auch „Geidô“ (Kunstweg) nennt. Das Wort wird aber auf verschiedene Weise in mehreren Kontexten verwendet.
Insbesondere bedeutet Dô die konkreten Inhalte dessen, was die Schauspieler, die Musiker und die anderen Mitarbeiter bei der Aufführung im Theater tun sollen. Es betrifft also den rein technischen Aspekt. Dazu ergänzt Zeami, mit welcher Einstellung die einzelnen „Wege“ praktiziert werden müssen, und gemäß dem jeweiligen Zustand des Bewusstseins teilt er die erreichten Leistungen in Grade auf. Dabei geht es sowohl um die Beherrschung der Techniken und den Ausdruck des eigenen Ichs als auch um die Befreiung des Geistes.
Die höchste Stufe heißt „Mushin“ (Nicht-Geist). Diese Ebene erschließt sich den Schülern am Ende aller Stufen der Praxis. Dabei betont Zeami die leitende Kraft des Dô. So finden sich die wichtigen Elemente beim Nô-Theater vor allem in der schönen Natur, wie in den Kirschblüten, im weißen Schnee oder im klaren Mond. Wie alle solche natürlichen Phänomene und auch die Tätigkeiten der Lebewesen unter der Bedingung der Zeit die Manifestation der Leere sind, treten auch alle Gegenstände im Nô aus dem Dô des Nichts hervor. Man muss das eigene Selbst völlig aufgeben und sich diesem großen „Mu“ anvertrauen. Daraus entsteht die absolut freie und wunderbare Kunst.
Es ist sehr deutlich, wie nahe dieser Gedanke von Zeami dem Begriff der „Sein-Zeit“ von Dôgen kommt. Die „Sein-Zeit“ ist die einmalige und einzigartige Zeit des Individuellen und gleichzeitig die alle solch individuellen Zeiten übergreifende Zeit.
Dô hat dieselbe Struktur. Es bedeutet ein zeitbestimmt organisiertes Übungsprogramm, und gleichzeitig herrscht darin eine übermenschliche Kraft. Die eigenen Bemühungen bei jeder Stufe des Dô sind zwar der Kern der Übungen, und es gibt sonst keine anderen Aufgaben, aber sie reichen nicht. Denn es geht dabei hauptsächlich um die Beherrschung der Technik, aber das eigentliche Ziel der Übung liegt im Erlangen der Einsicht in den Dô selbst. Wenn man diese Ebene erreicht, kann man sich sehr frei ausdrücken. Obwohl es widersprüchlich klingt, erkennt man dann auch, dass jede Stufe schon vollkommen ist und sie nicht zu irgendeinem Zweck dienen soll, weil der wahre Dô für immer da ist. Auch in dieser Hinsicht wird die Übung stets wiederholt und hat kein Ende.
Interessanterweise ist der Begriff Dô in diesem Sinne völlig identisch mit dem buddhistischen Begriff „Hôben“ (Mittel). Wie im Abschnitt 2.3.2 erwähnt, gibt es zahlreiche Hôben im Buddhismus, die den Menschen auf den Weg Buddhas führen und ihm helfen, Buddha zu werden. Auch sie sind aber nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern die Wahrheit selbst. Man praktiziert das Hôben, weil es außer ihm keine andere Wahrheit gibt. Dennoch darf man nicht darauf bestehen und muss schließlich dieses Hôben verlassen, gerade weil es nur ein Hôben ist. Diese widersprüchliche buddhistische Praxis stimmt mit den Dô-Übungen überein. Der Buddhismus selbst wird auch manchmal Butsudô (Buddha-Weg) genannt, womit die Praxis und die ethische Seite des Buddhismus im Wort selbst mehr betont werden.
So wie es die verschiedensten Hôben im Buddhismus gibt, gibt es auch zahlreiche Dô. Beim Hôben werden einige Methodiken mit „Mon“ (Tor) bezeichnet; sie enthalten jeweils verschiedene Übungen, die aber nur als verschiedene Eingänge zum selben gemeinsamen Ziel angesehen werden. Dies gilt auch für den Dô. Denn die konkreten Inhalte des Dô sind bei jeder Kunst oder bei jedem Sport sehr unterschiedlich, aber die Endstation dieser Wege ist gleich, und zwar die Erkenntnis des ursprünglichen Dô. Mit dieser Einsicht kann man dann sehen, dass sich dieser Dô überall in jedem einzelnen Dô manifestiert. Es ist egal, welchen Dô man auswählt und dadurch versucht, das Selbst auszudrücken.
Dennoch muss man erst einmal begreifen, wie sich die eigenen Übungen zum großen Dô verhalten. Das Ziel jedes Dô ist die wahre Selbstverwirklichung, die erst nach der Selbstaufgabe durch die einzelnen Dô gewonnen werden kann. In dieser Phase werden die Lerninhalte völlig relativiert. Um es zu beweisen, hinterlassen die Meister des Kendô (Fechtkampf) oft auch wunderbare Kalligraphien, oder die Kadô- (Ikebana-)Künstlerinnen sind gleichzeitig Meisterinnen des Sadô (Teezeremonie). Es gibt ein japanisches Sprichwort: „Wer eine Kunst ausübt, kann alle Künste.“
Nun soll auf den Sinn der Form im Dô eingegangen werden. Normalerweise lernt der Schüler beim Eintritt in den Dô einige vorgeschriebene Formen kennen. Der verbindliche Aspekt des Dô besteht darin, diese Formen genau nach den Vorschriften und Verhaltensregeln zu üben. Sie sind in langer Tradition überliefert, und innerhalb des Dô gibt es feine Unterschiede, die mit „-ryû“ (Linie) bezeichnet werden. Bei der Übung werden sie vom Meister oder von einem älteren Schüler gezeigt. Der neue Schüler macht sie nach und wiederholt sie eine Zeitlang, bis er sie beherrscht. Beim Sadô übt man z.B., wie man in das Teehäuschen eintritt, wie man den Teelöffel sauber macht oder wie man das Tüchlein faltet. Beim Kadô lernt man, welche Blume an welcher Stelle in die Vase gesteckt werden muss usw. Im Nô-Theater werden die formalen Aspekte der Begleitmusik und der Inszenierung mit dem Begriff „Jo-Ha-Kyû“ definiert, den Zeami aus der japanischen Hofmusik übernommen hat.
Die stufenweise Entwicklung der Übung im Dô ist mit diesen Formen eng verbunden. Man übt stufengemäß eine Form nach der anderen. Dies wird nach der natürlichen Ordnung, vom Einfachen zum Schwierigen und vom Grundlegenden zu seinen Variationen durchgeführt. Manchmal wird nur eine einzige Form praktiziert, und die Grade ihrer Beherrschung werden gemessen. Diese Form trägt zunächst einmal zur Selbstaufgabe im Sinne der Unterordnung der Geistigkeit unter die Körperlichkeit bei, wie bei den konkreten Beispielen von Dôgen gezeigt wurde. Man muss sich darauf konzentrieren und dennoch die Übung sehr natürlich ausführen, ohne sich die Form bewusst zu machen.
Hier sei noch ergänzt, dass der Dô stark durch seine eigentliche Wortbedeutung charakterisiert wird. Dô ist der Weg. Wenn also die Übenden wiederholt denselben Weg gehen, haben sie immer die gleiche Situation im gleichen Teil ihrer Route vor Augen. Manchmal trifft man auf einen steinigen Pfad, ein andermal geht man bequem den Waldweg entlang. Die Übungsformen können mit den Schildern verglichen werden, die Vorgänger hinterlassen haben. Sie sind freundliche Hinweise, mit denen man am besten und am sichersten auf dem Weg gehen kann. Es reicht aber nicht, wenn man die Beschreibung nur liest. Um die Schwierigkeiten zu überwinden, muss man mithilfe des eigenen Körpers den Weg weitergehen. Den gleichen Dô zu üben heißt deshalb, die gleichen Formen zu beherrschen.
In dieser Erklärung lässt sich die Rolle des Lehrers im Dô verdeutlichen. Es ist nicht er, der die Schüler leitet, sondern der Weg selbst. Er ist der Wegweiser und bescheidene Begleiter. Denn er weiß genau, woher die wirkliche Autorität kommt. Seine ständige Wiederholung der Formen dient nicht der Erfolgssicherung. Sie ist die glückliche Harmonisierung des großen Dô mit der individuellen Kreativität.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Dô also mit der Praxis des Zen sehr viele Gemeinsamkeiten hat.
2. Das Beispiel Sadô
Nun nehmen wir den Sadô (Teeweg) als konkretes Beispiel für eine Dô-Übung. Denn Sadô ist unter den mit „-dô“ bezeichneten Künsten wohl am meisten vom Zen beeinflusst. Diese Kunst besteht darin, mit rituellen Formen Tee zu trinken. Dabei handelt es sich nicht nur um das Zubereiten, Servieren und Trinken des Tees selbst, sondern auch um die Bauweise des Teehäuschens, die Anlage des Vorgartens und um die Kombinationen der verschiedenen Teegeräte, des Weihrauchs, der Blumengestecke und der Kalligraphien. Also kann Sadô ein Gesamtkunstwerk genannt werden.
Geschichtlich gesehen stammt sein Ursprung aus der Einführung des traditionellen chinesischen Teetrinkens in das japanische Zen-Kloster durch den Zenmeister Eisai. Dôgen bestimmte die Formen der Teezeremonie und integrierte diese Sitte in die Übung im Kloster. In der Muromachi-Zeit (15. Jh.) gründete Shukô Murata, der unter dem Zenmeister Ikkyû Zen gelernt hatte, den Sadô. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts definierte Jôoh Takeno den Begriff „Wabi“ und vollendete den Sadô damit. Sein Schüler, Sen no Rikyû, entwickelte diesen Begriff noch weiter und hinterließ dementsprechend die Grundlagen des Sadô, die bis heute überliefert werden. „Wabi“ ist der wichtigste Ausdruck des Sadô. Dies definierte Jôoh mit dem folgenden berühmten Waka-Lied:
„So weit man sieht, gibt es keine Kirschblüten und keine roten Ahornblätter. Dort steht nur ein schäbiges Fischerhäuschen in der Bucht. Es ist solch ein einsamer Herbstabend!“
Die Kirschblüten und die roten Blätter des Ahorns vertreten die Schönheit der Jahreszeiten, nämlich die des Frühlings und des Herbstes. Hier aber gibt es überhaupt nichts, das man genießen kann. Jôoh sah diesen Zustand jedoch als ideal für den Sadô an. Denn beim Sadô muss man alles Weltlich-Luxuriöse hinter sich lassen und mit dem Einfachsten recht zufrieden sein, was der damals üblichen Teezeremonie beim Adel genau entgegengesetzt war.
Diese Bescheidenheit von „Wabi“ beim Sadô erklärte Sen no Rikyû zusätzlich mit einem anderen Waka-Lied, womit sich der Unterschied zwischen den Wabi-Begriffen von Jôoh und Rikyû verdeutlichen lässt.
„Ich möchte gerne demjenigen, der nur auf die Kirschblüte wartet, die grünen Frühlingsgräser im Schnee in einem Bergdorf zeigen!“
In der hier dargestellten Landschaft gibt es wieder weitgehend nichts Sinnlich-Schönes. Doch findet der Dichter das erste Zeichen des Frühlings. Die kleinen Gräser sind zwar sehr gewöhnlich und überhaupt nicht großartig wie die Kirsche in voller Blüte, aber sie sind recht lebendig und daher sehr wertvoll für die Dorfbewohner im tiefen Berg, die lange auf den Frühling warten. Dieser Zustand drückt für Rikyû „Wabi“ aus. Die Tatsache, dass es keine für den normalen Verstand attraktiven Gegenstände gibt, ist in beiden Liedern gleich. Das ist der Geist des Nichts. Es ist klar, dass der Sadô auf dieser strengen Einschränkung beruht. Dennoch betont Rikyû den Keim des neuen Lebens in der sehr einfachen Gestalt inmitten des Nichts, was den Begriff „Wabi“ noch um einen Schritt erweitert.
Dieser Gedanke erinnert an die Struktur des Zen, die im achten, neunten und zehnten Ochsenbild dargestellt wird. Man muss erst einmal die Ebene des Nichts erreichen. Dann erfährt man die Auferstehung in der alltäglichen Welt. Wie zum neunten Bild gedichtet wurde: „Der Strom fließt aus sich selbst unendlich, die Blüte blüht aus sich selbst rot.“ Das ist wiederum nichts Sonderbares. Der Mensch genießt dies aber völlig und nimmt an dieser Welt auch ohne künstliche Bemühungen teil, damit er selbst das „Mu“ manifestieren kann. „Wabi“ ist also die Verwirklichung der buddhistischen Doppelheit (die Leere ist unmittelbar die Farbe) in der Kunst. Wenn man das richtig begreifen kann, wird einem auch die beste Technik beschert. Denn in der höchsten Phase wird man von allen Formen gründlich befreit und kann seine Individualität sehr kreativ ausdrücken, was nur durch die richtige Erkenntnis des „Mu“ ermöglicht wird. Rikyû vermittelt seinen Schülern diesen Sachverhalt folgendermaßen:
„Ji und Ri sind nicht verschieden. Wenn Ji reif genug ist, ist der Geist auch reif. Dass die Technik beherrscht wird, aber der Geist nicht erreicht wird, heißt, dass die Technik tatsächlich nicht die höchste Stufe erreicht hat. Dass der Geist reif genug ist, aber die Technik noch nicht beherrscht wird, heißt, dass der Geist noch nicht in die höchste Phase eingetreten ist.“
Die Kreativität kann auf diese Weise erst aus der Vereinigung von Technik und dem Geist des „Mu“ entstehen.
Welche konkreten Inhalte hat nun die Sadô-Kunst auf dieser letzten Ebene? Rikyû zog die unauffälligen Teeschalen den aus China importierten feinen Schalen vor. Auch führte er einige alltägliche Geräte in die Teezeremonie ein. Diese Gegenstände sind nicht schön in Form oder Farbe, aber haben einen spielerischen, freien Charakter. Außerdem liebte Rikyû in seinen späten Lebensjahren immer kleinere Räume für die Teezeremonie. Schließlich baute er ein sehr kleines Häuschen, das nur zwei Tatamis groß war. Alle überflüssigen Dinge müssen aufgegeben werden. Dieser konzentrierte Raum drückt aber direkt den unermesslichen Reichtum aus. Dort serviert der Meister den Tee und der Gast trinkt ihn. Durch diese Teilnahme an der bescheidenen Kunst schaffen die beiden offen und gemeinsam im Sinne des „Mu“ die wahre Schönheit. Die Kunst des „Mu“ ist jedoch die Kunst der Zeit. Die Teilnehmer sind sich dessen bewusst, des „einmaligen Treffens im einmaligen Leben“ (Ichigo-Ichie), und genießen diese wertvolle Begegnung.
Als Rikyû von einem Schüler gebeten wurde, ihm das Geheimnis zu verraten, wie eine ideale Teezeremonie sein solle, gab er ihm folgende sehr einfache Anweisung:
Die sieben Regeln von Rikyû
1. Der Tee muss so gekocht werden, dass er schmeckt.
2. Die Holzkohle muss so platziert werden, dass sie das Wasser erhitzen kann.
3. Die Blume muss so gesteckt werden, wie sie auf dem Feld blüht.
4. Im Sommer muss das gesamte Arrangement kühl sein, im Winter warm.
5. Die Zeit muss früh sein (gemeint ist: Man muss sich viel Zeit lassen).
6. Auch wenn es nicht regnet, müssen Schirme vorbereitet werden.
7. Nimm (als Gast) Rücksicht auf die anderen Gäste!
Immer muss man die jeweilige Jahreszeit im Arrangement zum Ausdruck bringen und sich immer um das Beste für die Gäste bemühen. Jede Regel ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und gilt auch für unser alltägliches Leben. Tatsächlich aber weiß man erfahrungsgemäß, dass es sehr schwierig ist, diese Regeln exakt in die Praxis umzusetzen. Die Übungen im Sadô zielen nicht auf die vollkommene Beherrschung irgendeiner schwierigen Technik, sondern auf die Realisierung dieser einfachsten Regeln. Dieser Gedanke ist nicht weit entfernt von der alltäglichen Zen-Praxis, in der es um das Gehen, Stehen (Im Japanischen: „Wohnen“), Sitzen oder Liegen geht.
Gliederung im Hinblick auf Ziele und Inhalte
Das Ziel der Zen-Übung kann zunächst als „Buddha werden“ definiert werden, wie es auch in allen anderen Schulen des Mahâyâna-Buddhismus der Fall ist. Der Ausdruck „Buddha werden“ kann aber nach Ansicht des Zen-Buddhismus auch falsch sein, weil die Menschen eigentlich Buddha sind.10 Diese äußerst widersprüchlichen Umstände des Buddha-Seins können nur im Zusammenhang mit den Ablaufphasen im Folgenden erläutert werden.
In der Zen-Übung werden zwei wichtige Begriffe, Shû und Shô, verwendet, mit denen das Verhältnis zwischen Ziel und Lernprozess dargestellt wird.
Statt „Shû“ wird üblicherweise das Wort „Shugyô“ verwendet, „-gyô“ von „Shugyô“ bedeutet „handeln“, das unmittelbar den Inhalt der Übung betrifft, und „Shû“ bedeutet „erlernen“. „Shû“ und „Shugyô“ können beide mit „üben“ übersetzt werden, wobei das Letztere noch anschaulicher als das Erstere den Gehalt der Übung darstellt. Beim Zen ist das Lernen gleich dem Üben. Wie bereits erwähnt, hat die Übung zur Erlangung der Weisheit zwei Richtungen und Ziele, Kôjô („aufwärts“, die Übung zur eigenen Erleuchtung) und Kôge („abwärts“, die Übung zur Erlösung der anderen Menschen). Shô wird mit „Erleuchtung“ übersetzt, wörtlich aber bedeutet es „Beweis“. Shô hat daher eine doppelte Bedeutung, nämlich den eigentlichen Zustand der Erleuchtung und den Beweis dieses Zustandes. Diese beiden Inhalte von Shô begründen die Übung.
Man macht die Übung in der Absicht, ein Buddha zu werden. Dies ist ganz natürlich, und die Rinzai-Schule übernimmt diese Ansicht. Dabei wird Shû als die Lernaktivität angesehen und Shô als ihr Ziel. Dagegen wird Shô bei der Sôtô-Schule als der Ausgangspunkt des Lernprozesses gesetzt und Shû als das Ergebnis, denn die Menschen sind ursprünglich Buddha, und sie üben nur, um es in der Praxis zu beweisen.
Auf diese Weise werden Shû und Shô methodisch unterschiedlich aufgefasst und je nach Schule anders behandelt. Sie gehören jedoch wesenhaft zusammen, und der Unterschied besteht bloß in der verschiedenen Betonung der Aspekte. Die Einheit von Shû und Shô ist im Grunde nichts anderes als die pädagogische Umsetzung des buddhistischen Dogmas: „Die Farbe ist die Leere. Die Leere ist die Farbe.“ Shû gehört zur Farbe, und Shô ist sowohl die Leere als auch deren Erkenntnis und Beweis. Beide sind unmittelbar verbunden. Das ist das Charakteristische beim Lernen des Zen. Die Unterschiede der beiden Schulen werden im Folgenden schematisch dargestellt:
Rinzai-Schule:
Shû > Shô > Shû
(Übung) (Erleuchtung) (Übung)
Kôjô Kôge
(aufwärts) (abwärts)
(Der Übungsinhalt von Kôjô entspricht den Bildern 1-7 und von Kôge den Bildern 8-10 der „Zehn Ochsenbilder“.)
Wie in den „Zehn Ochsenbildern“ und in Hakuins Kôan-System dargestellt, bemüht sich der Übende Schritt für Schritt, sich im Sinne der normalen Lernentwicklung zu verbessern, und nach der absoluten Verneinung der höchsten Erleuchtung kommt er wieder zur alltäglichen Welt zurück und passt sich den anderen „gewöhnlichen“ Menschen an. Die zwei Richtungen der Übung sind hier beim Wendepunkt von Shô klar getrennt, das dem achten Bild in den „Zehn Ochsenbildern“ entspricht. Diesen ganzen Prozess der Übung leitet die Kraft der Buddha-Natur (das wahre Selbst/der Ochse) als pädagogische Begründung, dass jeder eigentlich Buddha ist. In diesem Sinne sind Shû und Shô nicht zwei, aber Shû-aufwärts muss methodisch auf Shô abzielen und danach durch Shû-abwärts Shô auslöschen.
Sôtô-Schule:
Shô > Shû
(Erleuchtung) (Übung)
Kôjô (aufwärts)
Kôge (abwärts)
Alle Lebewesen sind von Anfang an Buddha, also erleuchtet. Dieser Gedanke heißt „Hongaku“ und wurde besonders während der Entwicklung der japanischen Tendai-Schule betont. Der Hongaku-Gedanke von Dôgen unterscheidet sich aber von demjenigen der Tendai-Schule. Bei der Sôtô-Schule wird die Erleuchtung nämlich nie ohne Übung realisiert.
Weil der Ausgangspunkt die Erleuchtung ist, scheint diese Übung ausschließlich Kôge, d.i. Bewegung zurück zum Alltag zu sein. Shû enthält aber auch den Faktor Kôjô. Dieser Sachverhalt wird von Dôgen mit dem mahâyâna-buddhistischen Begriff „Jiri-Rita“ (eigenes Verdienst, Verdienst des anderen) erklärt. Was man zuerst für die anderen übt, kehrt gleichsam zu einem selbst zurück. Oder man übt das eigene Zazen, damit die ganze Welt erleuchtet wird. Dôgen schreibt im Kapitel „Genjô-Kôan“ des „Shôbôgenzô“: „Wenn man den Buddha-Weg lernen will, muss man den eigenen und den anderen Körper und Geist verlassen.“ Kôjô und Kôge sind bloß zwei Seiten einer Übung. Kurz gesagt: Shû und Shô sind nicht zwei, deshalb muss Shô methodisch auf Shû abzielen.
Trotz des Unterschiedes zwischen den Methodiken der beiden Schulen aufgrund der verschiedenen Ausgangspunkte sind Shû und Shô dennoch in einer Einheit vereinigt. Das heißt: Obwohl der Schüler für sich übt und diese Übung unzureichend für die Erleuchtung ist, sind seine Bemühungen vom Aspekt des Shô her bereits die Erleuchtung, die sich auf alles andere auswirken kann, und gerade deshalb braucht er die Übung. Alle Übungsaktivitäten (Shû) sind daher immer durch die ursprüngliche Vollkommenheit (Shô) legitimiert.
Diese sonderbare Lernauffassung unterscheidet sich von der sogenannten „Tabula rasa“- Anschauung, weil der vollendete Zustand im Zen stets vorhanden ist, und in diesem Sinne kann der Schüler nicht mehr gebildet werden. Diese Ansicht ist aber auch anders als der rousseausche Gedanke, dass sich die Natur der Kinder möglichst selbst zu entwickeln hat. Denn das Wesen von Shô hat nichts mit allen pädagogischen Erfolgen zu tun und kann nie herausgebildet werden.
Die Einheit von Shû und Shô hat zwei gegensätzliche Funktionen, die beide die Pädagogik des Zenmeisters charakterisieren. Die erste Funktion ist die absolute Verneinung des Lernens. Weil Shô zu jedem Zeitpunkt in Shû impliziert ist, kann das Lernen ständig durch diesen vollendeten Zustand überprüft und verneint werden. Denn das Lernen ist vor dem Hintergrund von Shô nie vollkommen oder sogar einfach überflüssig. Zunächst funktioniert diese Verneinung als normale Selbstverneinung für den besseren Erfolg im Entfaltungsprozess. In der Rinzai-Schule werden die jeweils nächsthöheren Stufen in den „Zehn Ochsenbildern“ durch die Wiederholung der Verneinung erreicht. In der Sôtô-Schule steht das Beherrschen der Form im Mittelpunkt der Übung, und dies wird immer wieder im Vergleich zum vermeintlich vollkommenen Zustand korrigiert. Die absolute Verneinung fungiert aber noch gründlicher als solche Verneinungen, die als Maßstab für die Bewertung des Lernens herangezogen werden. Das achte Bild der „Zehn Ochsenbilder“ in der Rinzai- Schule und die endgültige Befreiung von der erlernten Form in der Sôtô-Schule sind die radikale Konsequenz der Shû-Shô-Einheit. Alles Gelernte wird einmal in Hinblick auf den ursprünglichen Zustand „weggebildet“. Das lernende Individuum wird verneint, der Lerninhalt wird verneint. Hier findet man die strengste Selbstkontrolle oder die wahre Freiheit des Lernens. Das ist eine Wirkung der Pädagogik des Zenmeisters, die das ursprüngliche Selbst durch die absolute Verneinung zurückzugewinnen versucht.
Die zweite Funktion ist dagegen die absolute Bejahung des Lernens. Vom gleichen Gesichtspunkt aus kann jedes Lernen wegen der Einheit von Shû und Shô ohne Ausnahme gerecht anerkannt werden. Der Schüler bemüht sich um immer weitere Entfaltung bei der Übung, beispielsweise um das Lösen des Kôans oder um das Beherrschen der Form. Wie gesagt, all dies wird zwar verneint, aber gleichzeitig werden all das Lernen und der Lernende als absolut vollkommen anerkannt, weil alle Lebewesen von Anfang an Buddha sind. Daher wirkt die ursprüngliche, wahre Kraft stets beim Lernen mit. Durch diese Wirkung kann der Übende den wunderbaren Wert der eigenen Bemühungen erkennen.
Auf diese Weise enthält die Pädagogik des Zenmeisters diese beiden widersprüchlichen Funktionen im Hinblick auf das überprüfbare Kriterium, und gerade deshalb ist sie selbstkritisch und sehr dynamisch. Der Schüler versucht stets in dieser Spannung, den Sinn der Alltagsübung mit der Körperlichkeit den Zugang zur anderen Welt zu überprüfen.
Trotz der bekannten Zen-Charakteristik, zu der die Unabhängigkeit von Schrifttum und die besondere Überlieferung außerhalb der orthodoxen Lehre gehören, bedeutete der Lerninhalt in der Zeit von Bodhidharma bis zum 6. Patriarchen vermutlich gleichmäßig verteilt diese zwei Arten von Lernen, das Körperliche und das Intellektuelle, wobei das Lankâvâtâra-Sûtra20 und das Diamant-Sûtra21 als wichtigste Sûtren angesehen wurden.
In klassischen Zen-Texten wird „Kufû“ normalerweise mit „Bemühungen“ übersetzt, aber dieses Wort bedeutet in unserer Zeit „sich etwas ausdenken“ oder „etwas Neues erfinden“, und diese Bedeutung ist bereits im früheren Gebrauch verborgen enthalten. Man darf sich nicht unüberlegt bemühen. Man muss die Sachverhalte gut beachten und zweckmäßig arbeiten. Während die Situation beim Zazen fast immer gleich ist, ändert sie sich in der Samu- Zeit (Zen-Arbeit) oder zu anderen Zeiten sehr schnell. Es ist zweifellos viel schwieriger, im Alltag selbstständig die richtige Handlung zu finden als beim Zazen, und deshalb sind die „Bemühungen in der Bewegung“ wertvoller. Wenn man sich andererseits richtig bemüht, sich zu jeder Zeit völlig mit der eigenen Körperlichkeit zu harmonisieren, wird der Weg auf natürliche Weise gefunden
„19.Januar Der Meister sagte mir, dass es am Abend nicht nötig sei, Feuer im Holzkohlebecken in seinem Zimmer zu machen, weil das Dokusan lange dauern würde. Also bereitete ich keine Holzkohle vor. Nachdem das Dokusan zu Ende war, ging er in sein Zimmer zurück und fand, dass es zu kalt war. Daher beschimpfte er mich heftig.“
Die Geschichte über das Holzkohlebecken ist ein gutes Beispiel. Was für einen Fall gilt, gilt nicht für jeden Fall. Dies liegt aber nicht an der Laune des Zenmeisters, sondern ist eine lebendige Übung für die Anforderungen an situationsgemäße Handlungen. Man muss immer frei handeln, um das Beste zu erreichen, und darf nicht auf statischen Regeln bestehen. Nur: Das lehrt der Meister nicht ausdrücklich. Er schimpft einfach über die Tat, und das ist das einzige Erziehungsmittel. Der Schüler muss selber begreifen, warum seine Handlung nicht akzeptiert wurde, wenn er auch „nur tat“. In jedem Augenblick wird er trainiert, richtig zu handeln, und diese Übung spiegelt die logische Struktur des Kôans wider.
Gemeinsam erarbeitende Vermittlung
In der Schule wird die gemeinsam erarbeitende Vermittlung beispielsweise in einem Projekt praktiziert, das die Schüler und der Lehrer gemeinsam planen, durchführen und bewerten. Dabei spielen das Ergebnis und nicht zuletzt der interaktive Arbeitsprozess eine wichtige Rolle. Die Schüler lernen durch dieses Verfahren, wie sie kooperativ arbeiten, wie sie teamgemäß auf ein Ziel gerichtet miteinander kommunizieren und wie sie gemeinsam die möglichen Probleme lösen können. Außer diesem speziellen Projekt erarbeitet der Lehrer mit der Lerngruppe etwas in einem Gespräch im Schulalltag.
Im Zen-Kloster könnten Zeremonien und Alltagsrituale als solche gemeinsam erarbeitende Vermittlungen bezeichnet werden. Schüler rezitieren zusammen Sûtren, verbeugen sich, essen, waschen oder schlafen zusammen nach bestimmten Formen. Das Bewusstsein in einer harmonischen Einheit ist auch bei dieser Zusammenarbeit vorhanden. Der deutliche Unterschied zur herkömmlichen Didaktik ist das Fehlen der sprachlichen Kommunikation beim Zen. Als Ausnahmefall gibt es auch tatsächlich eine Besprechung unter den Mönchen über den Arbeitsinhalt, aber grundsätzlich wird die verbale Auseinandersetzung aus den gemeinsamen Handlungen streng ausgeschlossen. Die Schüler scheinen nicht frei aus eigener Initiative heraus etwas zu erarbeiten. Trotzdem sind Zeremonien und Alltagsrituale tatsächlich eine freie und kooperative Arbeit, die als Erziehungsmittel eingesetzt wird.
Bei einer Feierlichkeit bewegt sich der Schüler in einer bestimmten Form. Er ist zwar ein Element der Zeremonie, aber gleichzeitig drückt er das Ganze aus. Ohne ihn kann die Feier nicht stattfinden. Jeder Schüler könnte als Organ eines Lebewesens angesehen werden. Jeder ist unentbehrlich, aber jeder ist völlig frei. Dies bedeutet nicht funktionell frei, sondern ontologisch im Sinne des Kegon-Sûtras, weil Shô gemeinsam und stets jeden begleitet. Die gemeinsam erarbeitende Vermittlung für die Pädagogik des Zenmeisters bedeutet, dass alle Schüler vor dem Hintergrund der Shû-Shô-Struktur vereinigt arbeiten und durch diese Praxis diese Sachverhalte begreifen. Das heißt: Da jeder Schüler in einem individuellen Zustand in Hinsicht von Shô arbeitet, kann er mit den anderen durch einen Kanal von Shô im Schweigen kommunizieren. Auch die Zeremonie mag jedes Mal anders sein, aber sie ist immer eine lebendige Kooperation, um die sich jeder bemüht.
Bei diesem Arbeitsverfahren stellt der Rôshi seine Handlung als Vorbild dar. Sie fungiert als Erziehungsmittel für die Schüler, aber gleichzeitig wird sie, ohne Spuren zu hinterlassen, in die Gruppe integriert. Er ist auch bloß ein Teil des Körpers, in dem sich das Ganze manifestiert. Daher gleicht seine Position der des Schülers, der auch dies verstehen lernen muss.
In der Pädagogik des Zenmeisters wird die Auswahl der Sozialformen ebenfalls durch den didaktischen Sinn begründet. Die Grundlage der Übung ist jedoch zweifellos der einzelne Schüler. Er wird aber nicht nur allein gefördert, sondern er lernt auch die Kooperation und flexible Gruppendynamik im Alltag, wobei er sich selbst völlig aufgibt. Er vereinigt sich mit den anderen Menschen und mit dem Arbeitsort je nach den Sozialformen.
Im Grunde betrifft die Beschreibung über die Sozialformen den Kôjô-Aspekt. Unter dem Kôge-Aspekt dient der Schüler allen Lebewesen. Die Übung muss immer weit hin zur Welt geöffnet sein, in der alle Mitmenschen zu erlösen sind. Diese Praxis lässt sich am besten anhand der Sechs Pâramitâs seit der Entstehung des Mahâyâna-Buddhismus darstellen. Selbst die Einzelarbeit macht der Schüler nicht nur für sich. Er befindet sich stets in der Mitte der Welt und zusammen mit den anderen Menschen. In der Pädagogik des Zenmeisters drückt „sozial“ in „Sozialform“ diesen Sachverhalt aus. Deshalb hat die Sozialform über den herkömmlichen Sinn hinaus eine große Reichweite. Den Schüler dies begreifen zu lassen gehört auch zur Aufgabe des Zenmeisters, der ihm die Aufgaben zweckmäßig in der differenzierten Sozialform mitteilt.
Medien dienen u.a. dazu, das zu Vermittelnde anschaulicher zu machen, damit sie den Lernenden Hilfestellung geben können. Wenn es um die Anschaulichkeit der Medien geht, sie also für das bessere Verstehen des Lernenden eingesetzt werden, können die „Zehn Ochsenbilder“ zweifellos als ein geeignetes Beispiel für ein Medium im Zen angesehen werden. Sie werden mit Lehrbüchern in der herkömmlichen Didaktik verglichen, die darauf zielen, das Interesse der Lernenden zu wecken und zumeist durch den visuellen Zugang kognitives Verständnis zu fördern. Die Entstehungsgeschichte dieser Bilder bestätigt den didaktischen Mediencharakter. Es ist bemerkenswert, dass es eine optische Verständnishilfe in der Pädagogik des Zenmeisters gibt, in der ja in erster Linie die körperliche Übung und die darauf basierende direkte Einsicht für wesentlich gehalten werden.
Hier findet man zweierlei Medientypen in der Pädagogik des Zenmeisters, zum einen die sprachliche und zum anderen die visuelle Darstellung. Das Darzustellende ist widersprüchlich und eigentlich nicht darzustellen, wie alle Kôans sagen. Deshalb ist es äußerst schwierig, „es“ den Schüler durch die Medien begreifen zu lassen, und die Medien scheinen für ihn nicht besonders hilfreich zu sein. Trotzdem werden die Medien wie in der herkömmlichen Pädagogik auch in der Zen-Übung als Hilfsmittel eingesetzt. Es gibt eine Unzahl von Zen- Literatur, und Zenmeister malen oft Bilder mit Zen-Sprüchen als Kalligraphie.
Prinzipiell ist die Anschauung beim Zen eine Handlung, die mit dem ganzen Körper ausgeübt wird, und nicht eine Betrachtung durch Medien.
Das Bewerten in der herkömmlichen Pädagogik lässt sich im Wesen unter zwei Aspekten betrachten:
Der erste Aspekt bezieht sich auf den Schüler, und zwar wird das individuelle Ergebnis seiner Leistung nach bestimmten Kriterien bewertet, die zumeist vom Lehrer vorgegeben werden. Dabei geht es darum, inwieweit er das Lernziel erreicht hat und inwiefern das Zwischenergebnis eventuell für den Lernprozess dienlich ist. Die Bewertung muss möglichst objektiv durchgeführt werden, und deshalb braucht die Kontrolle mehrere Bezugsnormen.
Wenn der Schüler dabei eine positive Bewertung nach irgendeiner Bezugsnorm gewinnen kann, kann die Bewertung für ihn zugleich auch die Motivationsfunktion für das weitere Lernen tragen.
Der zweite Aspekt kann nur im Zusammenhang mit dem ersten betrachtet werden, nämlich die Selbstkontrolle des Lehrers bei seiner Vermittlung. Wenn sich eine positive Leistung ergibt, darf der Lehrer auch seine Tätigkeit als befriedigend bewerten und weiter so fortfahren. Wenn nicht, muss die Ursache des Misserfolgs gesucht und die unangemessene Didaktik für die Zukunft korrigiert werden. Das Bewerten enthält unter diesem Aspekt eine Prognose.
Beim Zen ist das Lernziel die Verwirklichung des wahren Selbst, das eigentlich schon immer da ist. In diesem Sinne ist es unsinnig, auszuwerten, inwieweit das Ziel erreicht wird. Außerdem ist das wahre Selbst, mit anderen Worten: das Nichts, in seinem Wesen gar nicht zu messen.
Anderseits ist die Bewertung doch ein unentbehrlicher Faktor beim Zen und wird tatsächlich in der Evaluation der „Farbe“ durchgeführt. Wie sich die „Farbe“ ändert, wird vom Meister aufmerksam beobachtet und gemessen. Nach Bedarf wird für den Zustand des Schülers eine entsprechende Maßnahme ergriffen. Dies ist nichts anderes als die normale pädagogische Bewertung. Dabei sind sachlogische und individuelle Bezugsnormen vorhanden. Ob der Schüler mehr „Verständnis“ über das wahre Selbst erlangt hat und ob der Schüler es selber in die Praxis umgesetzt hat, wird durch die „Farbe“ bewertet.
Des Weiteren gibt es eine eigenartige kollektive Bezugsnorm beim Bewerten in der Pädagogik des Zenmeisters, und zwar kann die Interaktion zwischen Schüler und Meister oder zwischen allen möglichen Dingen und dem Schüler durch den Realisierungsgrad des Zieles, der sich dabei zeigt, bewertet werden.
In der Pädagogik des Zenmeisters hat eine Bewertung auf diese Weise immer zwei Aspekte, das Leistungsmessen des Schülers und die eigene Kontrolle der durchgeführten Didaktik, und beide ergänzen sich immer. Selbstverständlich beruht dies auf der Einheit von Shû und Shô.
Die Pädagogik des Zenmeisters kann aber auch anders bewertet werden. In den „Zehn Ochsenbildern“ wird dieses Kriterium gut dargestellt, und zwar dort, wo sich der Kreis zwischen dem letzten Bild und dem ersten Bild schließt, mit anderen Worten: Wenn der Junge im letzten Bild seine Selbstsuche beginnt, dann hat die Pädagogik Sinn bekommen. Das ist die Entstehung des Bodhi-Geistes, und es gibt keinen anderen Maßstab zur Selbstkontrolle für den Zenmeister, der mit seiner einmaligen „Farbe“ eine einmalige Pädagogik durchführt. Diese statische Leistungsbewertung als Einmaligkeit kann sich durch die Anschließung an den neuen Kreis in eine dynamische Leistungsbewertung umwandeln.
Das erste von den Vier Großen Gelübden55, „Die Geschöpfe sind ohne Zahl. Ich gelobe, sie zu erlösen“, kann in diesem Sinne sofort in eine Frage nach dem Selbst verwandelt werden: Ob ich mich um des wahren Selbst willen wirklich bemühe, die Geschöpfe ohne Zahl zu erlösen? Aus dieser einfachen Frage ergeben sich notwendigerweise die folgenden praktischen Fragen: Ob ich als Lehrer die „Farbe“ gemeinsam mit dem Schüler in der unersetzlichen Konstellation richtig aufarbeitete, und ob dieser Schüler dadurch den Bodhi- Geist der anderen Menschen weiter erwecken konnte. Der Bodhi-Geist fungiert im Zen als Antrieb für den ewig dauernden Lernweg, der gleichzeitig den Erfolg der Pädagogik bedeutet. Weil auch die Zahl der Geschöpfe unendlich ist, ist die Weitergabe dieser Pädagogik mit dem Bodhi-Geist entscheidend wichtig. Solch eine eindeutige Bewertung in dieser Hinsicht könnte ein Grund für die dauerhafte Überlieferung des Zen in der Geschichte sein, da dieser Gesichtspunkt große Beachtung fand.
7.1.3. Die Sprache in der Pädagogik des Zenmeisters
Im Vergleich zum oben Dargelegten wird die Sprache in der Pädagogik des Zenmeisters völlig anders gesehen und verwendet. Zuerst soll ein kurzer Überblick über die Geschichte des Zen unter dem Aspekt der Sprache gegeben werden.
Zu den von Bodhidharma beschriebenen Charakteristika des Zen gehören:
1. die Unabhängigkeit von Schrifttum
2. besondere Überlieferung außerhalb der orthodoxen Lehre
Hier erkennt man schon die Haltung zur Sprache. Die Entstehung des Zen-Buddhismus als selbstständige Schule in China war ganz wesentlich beherrscht vom Misstrauen gegenüber dem Geschriebenen, während die anderen Schulen die enormen Mengen der überlieferten Sûtren als gegeben hinnahmen. Nicht nur die Skepsis hinsichtlich der schriftlich niedergelegten Sprache, sondern auch die Unabhängigkeit von der Sprache überhaupt war stets die Grundlage des Zen-Buddhismus.
Das Merkmal der „besonderen Überlieferung außerhalb der orthodoxen Lehre“ wird auch mit der Formulierung „Überlieferung von Herz zu Herz“11 ausgedrückt, d.h., der direkte Blick in die „Leere“ kann nie verbal vermittelt werden. Wenn die authentische Erfahrung bei einem Menschen entsteht, dann wird dies als Dharma bezeichnet, und das heißt, dass „es“ übermittelt wurde und dass vor diesem Moment diese Einsicht selbst niemals operationalisiert wurde. Die Anhänger des Zen-Buddhismus versuchten jedoch immer wieder, diese nichtsprachliche Erfahrung auch sprachlich weiterzureichen. Trotz der Erkenntnis der Begrenztheit der Sprache hörten sie nie auf, über „es“ zu erzählen und zu schreiben, was schließlich eine große Anzahl von Sûtren, Dokumenten und Literaturen ergab.
Anderseits war das Überwinden des nur durch Sprache vermittelten Denkvermögens die kontinuierliche Aufgabe des Zen-Buddhismus. Die Erfindung der Kôan-Übung in China dürfte das Resultat der realistischen Denkweise des Volkes gewesen sein. Die Anhänger des Zen-Buddhismus fühlten das Bedürfnis, das Dharma auch im alltäglichen Leben wirksam werden zu lassen. Viele Zenmeister mit den verschiedensten Persönlichkeiten entwickelten eigene Kôan-Methoden. Das war die Blütezeit des Zen in China, in der die Sprache recht frei und pragmatisch durch die Sprache überwunden wurde.
„Zenmeister Linchi sagt:
Manchmal nehme ich den Menschen weg und nehme die Umgebung nicht. Manchmal nehme ich die Umgebung weg und den Menschen nicht. Manchmal nehme ich die beiden, den Menschen und die Umgebung weg. Manchmal nehme ich weder den Menschen noch die Umgebung weg.“
Interpretation
Wie Izutsu zeigt, muss diese Sichtweise der Ausgangspunkt sein. Es gibt weder Subjekt noch Objekt, es gibt weder Sehende noch Gesehene. Das Mu ist eine sprachliche Bezeichnung dieses Zustandes. Das ist gerade das, was im Zen zu überliefern ist. Die operative Funktion ist damit ausgedrückt. Das Kôan Mu ist die Übung, mit der man diese Sichtweise zuerst erlangen kann.
– Keine Umgebung, sondern nur der Mensch
Überall herrscht nur „Ich“. Es gibt nur das Subjekt und keine Objekte. Was man trifft, ist nichts anders als man selbst. Izutsu nennt eine Zen-Phrase „Sitz allein auf dem großen Berg“29 als Beispiel dieser Sichtweise. Ich sitze allein auf dem Berg und sehe nichts mir gegenüber. Weil man unmittelbar die Wahrheit manifestiert, funktioniert die instruktive Funktion, die erst im Zen über den Dualismus hinaus möglich ist. Man geht völlig auf in der Erleuchtung.
– Nur die Umgebung, aber kein Mensch
Diesmal ist kein Subjekt da, sondern es sind nur Objekte vorhanden. Nirgendwo mische „ich mich“ ein. Nach der Kategorisierung von Izutsu bezeichnet „Die Eiche im Vorgarten“31 diesen Zustand. Unter diesem Aspekt gestaltet die ganze Welt die subjektlose Interaktion. Hier sieht man die kommunikative Funktion der Zen-Sprache. Der Übende nimmt als subjektloses Subjekt auch daran teil.
– Der Mensch und auch die Umgebung
Das Subjekt und das Objekt bleiben gewöhnlich wie in der Alltagssprache. Izutsus Beispiel ist „Wie gern erinnere ich mich an Kônan im März! Die Rebhühner rufen, und die Blumen duften!“33 In dieser Aussage von Meister Fuketsu werden der Erzählende (also in diesem Fall der Meister Fuketsu) und die erzählte Szene dargestellt. Diese normale Darstellung setzt aber die erste Sichtweise „Weder Mensch noch eine Umgebung“ voraus. Alles ist nichts und nichts ist alles. Wegen dieser Gleichheit kann die operative Funktion auch in dieser Sichtweise miterwähnt werden.
Erstens ist im Konstruktivismus die grundlegende Skepsis gegenüber der Sprache als Vermittlung im Konstruktivismus identisch mit dem Zen, während die herkömmliche Pädagogik diesen Blickwinkel zumeist außer Acht lässt. Die konstruktivistische These, dass die Konstruktion der Wirklichkeit durch die Sprache völlig vom Individuum abhängig ist, war schon immer die Behauptung von Zen. Zweitens ist die konstruktivistische Verneinung der „Übertragung“ des Wissens vom Lehrer zum Schüler als Folgerung dieser These ebenso im Zen zu finden. Drittens ruft der konstruktivistische Aspekt eine neue Fassung für den Zusammenhang von „Sprache und Lernen“ hervor, die das Zen eigentlich immer schon als seinen wichtigsten Lerngehalt durch die Kôan-Übung hielt.
„Den Buddha-Weg zu erlernen heißt das Selbst zu erlernen. Sich selbst erlernen heißt sich selbst vergessen.“
Wenn man einen Zenmeister jedoch lange beobachtet, bemerkt man schon die Ästhetik aller Handlungen. Keine Bewegung ist überflüssig. Er bewegt sich einfach und schlicht, aber zweckmäßig und lebendig. Mit seinem ganzen Körper setzt er ständig die Übung fort, und die Übung ist unmittelbar die Erleuchtung. In dieser Gestalt zeigt er völlig die aus der Erleuchtung selbst kommende Autorität, die den Schüler beeindruckt. Sie lässt sich vor allem im Zusammenüben mit dem Schüler verdeutlichen. Der Meister ist dabei nichts anderes als ein Bodhisattva, der im gleichen Rang wie der Schüler bleibt.
Es gibt aber noch einen wichtigen Aspekt der Bereitschaft des Schülers im pädagogischen Bezug. Das ist die Erkenntnis der Vergänglichkeit im Sinne der „Drei Dharma-Formeln“66, die als Grundlage des Buddhismus fungieren. Dôgen schreibt im ersten Kapitel des Buches „Gakudô-Yôjinshû“, dass der Bodhi-Geist, mit dem man die Vergänglichkeit einsieht, die Voraussetzung der Übung ist. Die Frage von Leben und Tod ist ein unvermeidliches Problem für die Menschheit, aber meistens versuchen die Menschen, diese schmerzhafte Tatsache der Vergänglichkeit nicht zu sehen. Wenn man sich trotzdem sehr entschlossen mit dieser Frage befassen möchte, gewinnt man unerwartet viel Mut für die Zen-Übung und zusätzlich eine große Akzeptanz der autoritären Leitung.
In der Rinzai-Schule wird das oft so erklärt, dass die Übung drei Voraussetzungen benötigt, nämlich den großen Glauben, den großen Zweifel und die große Entschlossenheit .67 Je fester der Glaube verwurzelt ist, dass man eigentlich schon Buddha ist, desto tiefer wird die Frage von Leben und Tod verinnerlicht werden, und desto mehr Mut hat man, das wahre Selbst darüber hinaus zu suchen. Mit dieser Motivation setzt der Schüler die Übung bis zum großen Tod (das achte Bild der „Zehn Ochsenbilder“) fort und lebt schließlich wieder auf (das neunte und das zehnte Bild). Die Erkenntnis der Vergänglichkeit ist also der Leitfaden der Übung. Sie entsteht nicht aus der Pädagogik des Zen selbst, aber sie wird stets vom Meister thematisiert. Die in den Kôans häufig auftauchende Frage „Was ist das?!“ bezieht sich auf die Hinterfragung dieser augenblicklich sich verändernden phänomenalen Wirklichkeit im Sinne der „Drei Dharma-Formeln“.
Wenn der Schüler von dieser Erkenntnis genügend motiviert ist, dann wird sie durch die Verneinungen des Meisters ständig verstärkt, und schließlich wird er das wahre Selbst erlangen. Falls nicht, wird die Frage verschwinden, und der Schüler hört möglicherweise mit der Übung auf. Die erbarmungslose Leitung des Meisters, der sich auch tief mit dieser Frage beschäftigt, funktioniert unter diesem Gesichtspunkt auch als Aussortierung nach dem Kriterium der innerlichen Bereitschaft.
7.3. Körperlichkeit
Die bisherige Untersuchung zeigt, dass die Körperlichkeit in der Pädagogik des Zenmeisters eine entscheidende Rolle für die Übung spielt. In diesem Abschnitt wird geklärt, wie sich die Körperlichkeit zur Sprache verhält und was für eine Rolle sie im Zen spielt, wobei ihre Bedeutung in der Zazen-Praxis anhand der Yuishiki-Lehre68 gezeigt wird.
7.3.1. Die Grundlage
Nun soll noch einmal ausführlich auf die Frage eingegangen werden: Was ist eigentlich die Körperlichkeit? Um sie zu definieren, ist zunächst der Unterschied zwischen Körper und Körperlichkeit zu klären. Unser Körper ist eine physiologische Gesamtheit. Die Wahrnehmung durch die Sinnesorgane und die Motorik bestimmen die grundlegenden anthropologischen Antriebe des Menschen. Sie werden aber vom Bewusstsein in einer subjektiven Einheit integriert und tragen zur Beibehaltung der Identität bei, die jedem Menschen eigen ist. Innerhalb dieser Identitätsbildung gehört die physische Ebene auch zum geistigen Produkt. Der Begriff Körperlichkeit beinhaltet daher zwei Funktionen, einerseits die direkten leiblichen Empfindungen und das Verhalten und zum anderen die Integration ins Bewusstsein durch die Erkenntniskategorisierung.
Beim Letzteren wird das komplementäre Verhältnis zwischen Körperlichkeit und Sprache sichtbar. Das Subjekt, das stets mit der Sprache das eigene Sein festhält, drückt in der Körperlichkeit seine konkrete Seinsweise aus. Die Untrennbarkeit von Sprache und Körperlichkeit wurde am Beispiel von Helen Keller dargestellt.
Nach ihrer Erinnerung wurden ihre einzelnen Empfindungen in dem Moment, als sie die Hände unter fließendes Wasser hielt, wieder mit der Sprache verknüpft. Dadurch wurde die Körperlichkeit wieder sinntragend in ihre eigene Identität einbezogen. Diese enge Beziehung bedeutet jedoch, dass es keine neutrale und allgemeingültige Körperlichkeit gibt, sondern dass sie individuell durch Sprache vermittelt gebildet wird. Im obigen Beispiel empfing Helen Keller die Wahrnehmung durch die Hand und erkannte das Objekt als „Wasser“. Wenn sie aber Japanerin gewesen wäre, würde sie sofort festgestellt haben, dass es „kaltes Wasser“ war. Denn in der japanischen Sprache gibt es zwei verschiedene Bezeichnungen für „Wasser“ und zwar „Mizu“71 für das kalte und „Yu“ für das warme Wasser. Schon im Augenblick der Wahrnehmung teilt ein Japaner das Wasser gemäß der Differenzierung auf, ob es warm oder kalt ist. Bei Angehörigen der europäischen Sprachen ergibt sich keine solche Differenzierung. Egal, ob es warm oder kalt ist, die Flüssigkeit bedeutet erst einmal nur „Wasser“.
Die Farbe ist ein weiteres bekanntes Beispiel. Die Menschen können eigentlich in einem bestimmten Frequenzbereich alle Wellenlängen wahrnehmen. Trotzdem gibt es bei jedem Volk unterschiedliche Namen für die verschiedensten Farbabstufungen, die wiederum von anderen Völkern nicht oder anders unterschieden werden. Tatsächlich können die Menschen nur die Farben erkennen, die mit einem Namen in der eigenen Sprachspielgemeinschaft bezeichnet werden. Auf diese Weise wird unsere Körperlichkeit schon in dem Moment von der Sprache bestimmt, wenn diese in die Identität integriert wird.
7.3.2. Die Körperlichkeit in der Pädagogik des Zenmeisters
Nun betrachten wir die Rolle der Körperlichkeit in der Pädagogik des Zenmeisters. Der Buddhismus kann als eine Religion der Körperlichkeit angesehen werden. Schon im frühesten Buddhismus gab es die Praxis, den Gläubigen die Anleitung für die richtige Achtsamkeit und Sammlung im „Achtfachen Pfad“ anzubieten. Sie wurzelte in der indischen Tradition der Yoga-Lehre, die heutzutage zumeist in Form des reinen körperlichen Trainings weltweit verbreitet ist. Diese Tatsache deutet an, dass die ursprüngliche Funktion der körperlichen Übung im Buddhismus eine Hilfestellung zur Verwirklichung des richtigen alltäglichen Lebens war.
Mit der Entstehung des Mahâyâna-Buddhismus übernahm die Körperlichkeit eine weitere wichtige Rolle, nämlich in erster Linie die Einsicht in die „Leere“ zu erlangen und sie zu praktizieren. Der ontologische Sinn des Buddhismus wurde nun mit der Körperlichkeit fest verbunden, die der Schlüssel zur Befreiung vom Bann der Sprache werden konnte. Diese neue Aufgabe für die Körperlichkeit entwickelte sich in ethischer Hinsicht durch die Praxis der „Sechs Pâramitâs“. Die Versenkung (Dhyâna), die der Achtsamkeit und Sammlung im „Achtfachen Pfad“ entspricht, setzt Weisheit (Prajnâ-Pâramitâ) voraus, und mit der richtigen Einsicht wird die Übung auch sinnvoll durchgeführt. Von diesem Gesichtspunkt aus wurden die „Drei Lernfaktoren“, die fundamentalen Faktoren in der buddhistischen Praxis, nämlich Gebote, Sammlung und Weisheit, pädagogisch zusammengefasst. Dies ist die gesamte Übungstheorie, die die richtige Einstimmung der Körperlichkeit durch das Einhalten der Gebote und die dynamische Einsicht beinhaltet. Selbstverständlich wirkt sie aufwärts und abwärts (Kôjô und Kôge).
Die Vereinigung von Körperlichkeit und Weisheit wurde besonders in den Zen-Schulen methodisch entwickelt. Dabei gilt das Zazen nicht als ein Teilaspekt der Praxis, sondern als einziger Ausgangspunkt, der alle anderen buddhistischen Lehren ermöglicht. Nach der Auffassung des Zen erreicht man die Weisheit der „Leere“ nur durch die Körperlichkeit im Zazen, und dann muss man sie vor allem in die Praxis umsetzen, sonst kann das Ziel des Bodhisattvas niemals verwirklicht werden. In dieser Kôge-Übung spielt die Körperlichkeit auch bezüglich der „Farbe“ eine wichtige Rolle. Darauf wird später eingegangen. Die Körperlichkeit fungiert also im Zen als die Grundlage, die den Mâhâyana-Buddhismus charakterisiert.
Nun wird das Verhältnis zwischen der Körperlichkeit und der Zazen-Übung nach der Yuishiki-Lehre folgendermaßen erklärt.
Bewusstsein Das 1. Bewusstsein – Augen Das 2. Bewusstsein – Ohren Das 3. Bewusstsein – Nase Das 4. Bewusstsein – Zunge Das 5. Bewusstsein – Körper Das 6. Bewusstsein – Gewahrsein
Das 7. Bewusstsein – Manashiki
_____________________________________
Das 8. Bewusstsein – Arayashiki
Das Objekt des Bewusstseins 1. Farbe, 2. Laut, 3. Geruch, 4. Geschmack, 5. Tasten, 6. Dharma (Sein)
Zazen vereint die Objekte des Bewußtseins und führt über die Sibente zur letzten achten Stufe.
Alles, was existiert, entsteht aus der Gesamtheit dieses Bewusstseins. Noch genauer: Unsere Wahrnehmung kommt durch die ersten sechs Sinne zustande. In den ersten fünf Sinnen handelt es sich um die Gegenstände in der Gegenwart. Der sechste Sinn, nämlich unser Denken oder Bewusstsein im normalen Sinne, kann die Gegenstände auch in der Vergangenheit und in der Zukunft als Objekte nehmen. Das siebte Bewusstsein, Manashiki, liegt unter diesen sechs Sinnen und steuert alle Wahrnehmungen. Das ist der Ursprung der Ich-Identität, den man normalerweise nicht erkennen kann. Tief unter dem siebten Bewusstsein liegt noch das achte Bewusstsein, Arayashiki. Das wird als ein Speicherbewusstsein verstanden. Hier werden alle Karmas, die über die Lebenszeit eines Menschen hinaus in unendlicher Breite zusammenhängen, gespeichert. Mit der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis könnte das Arayashiki möglicherweise mit der DNA verglichen werden. Das ist der eigentliche Ursprung eines Menschen, der jedoch nie an der Oberfläche auftaucht.
In der Zazen-Übung versucht man alle sechs Sinne zu beruhigen und in die eigene körperliche Tätigkeit zu integrieren, die man kontrollieren kann. Dann entsteht aus dieser Körperlichkeit die Sammlung, die zur Weisheit führt.
Im Herz-Sûtra steht:
„Kein Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper oder Bewusstsein weder Farbe, Ton, Geruch, Geschmack, Tasten oder Vorstellung“
Durch die Körperlichkeit kann man erkennen, dass die Welt durch die sechs Sinne eigentlich gleich „Leere“ ist. Diese kann aber wieder alles sein. Das ist der Punkt, der nur durch die „eigene“ Körperlichkeit erkennbar ist, die sich innerhalb der Welt unter dem Gesetz von Ursache und Wirkung befindet.
Im Herz-Sûtra steht auch:
„Die Farbe ist die Leere. Die Leere ist die Farbe.“
Darüber hinaus wirkt die Körperlichkeit direkt auf das siebte und das achte Bewusstsein. Das Zazen ist die einzige Möglichkeit, dass man den mit der Sprache fest verbundenen dualistischen Gedanken, beispielsweise entweder das Sein oder das Nichts, überwinden kann. Alles existiert, aber gleichzeitig existiert nichts. Das Gesetz von Ursache und Wirkung existiert, aber gleichzeitig existiert nichts. Damit kann man endlich von seinem Karma befreit werden. Das Zazen erreicht das achte Bewusstsein und wirkt dort direkt.
Noch in anderer pädagogischer Hinsicht betrachtet, kann die Körperlichkeit als Ursprung für die Legitimation der Bildsamkeit im buddhistischen Sinne angesehen werden. Denn jedem Menschen wohnt die Buddha-Natur, die alles bilden und gleichzeitig wieder alles entbilden kann, von Anfang an schon inne, und nur die Körperlichkeit kann sie erwecken. Sie ist eine Fähigkeit, die man wie die Buddha-Natur immer hat, aber die sich mit der Übung erst manifestieren kann. Den Menschen, die zufälliger- und glücklicherweise im Verlauf der sechs Welten81 in der Welt der Menschen geboren werden, steht sie zur Verfügung. Sie müssen gerade deshalb ihre Fähigkeit völlig entfalten.
In der Zen-Praxis gibt es noch eine andere Art der Körperlichkeit als diese Kôjô-Richtung, nämlich die Kôge-Richtung. Es handelt sich dabei um die Praxis des Alltags, und über den methodischen Unterschied zwischen Rinzai- und Sôtô-Schule hinaus ist die alltägliche Übung ganz wesentlich.
Dôgen schreibt in Fukanzazengi:
„Ihr müsst den Rückschritt in euch selbst lernen, wo das Licht zurückstrahlt.“
Die Strahlung der Weisheit muss im Alltag erscheinen. Der Schüler muss sein Leben mit diesem Licht überprüfen, ob er es wirklich entsprechend dem Dharma verbringt. Diese Überprüfung drückt Dôgen mit dem „Rückschritt“ aus.
Im Kloster arbeiten die Mönche schweigend den ganzen Tag. Während der Erledigung ihrer Aufgaben funktioniert ihr eigener lebendiger Leib an jedem Ort und zu jeder Zeit. Durch dieses Erlebnis erkennt der Schüler, dass das Dharma tatsächlich durch diese Körperlichkeit in der Gesamtheit der Wahrnehmungen dargestellt werden kann und dass es der endgültige Sinn der Übung ist, mit der Körperlichkeit bei jeder Gelegenheit zielgerichtet umzugehen. Dies muss der Schüler aus der ursprünglichen Tiefe der eigenen Körperlichkeit heraus mithilfe des Zenmeisters als begleitendem Bodhisattva selbst lernen und erkennen, der diese zwei Körperlichkeiten, von Kôjô und von Kôge, in der Wirklichkeit zeigt.
Im herkömmlichen Schulunterricht wird die Körperlichkeit außer bei Sport, Musik und Kunst nicht viel beachtet, weil das Lernen nach wie vor hauptsächlich in der verbalen Vermittlung besteht. Der Unterricht enthält aber stets aktuelle Momente der Körperlichkeit. So hört beispielsweise der Schüler dem Vortrag des Lehrers oder den Äußerungen der anderen Mitschüler zu, zeigt mit der Hand auf, schaut die Tafel an oder schreibt einen Satz ins Heft. All dies gehört zur körperlichen Tätigkeit. Obwohl sie das lernende Subjekt quasi nebenbei unterstützt, wird sie meistens als unabhängige technische Angelegenheit angesehen. Da diese Körperlichkeit zunächst mit der Sprache begriffen wird, ist sie in der herkömmlichen Pädagogik meistens hinter der Sprache verborgen und wurde in der abendländischen Erziehungswissenschaft nicht sehr thematisiert.
In der Pädagogik des Zenmeisters ist die Körperlichkeit dagegen zunächst völlig unabhängig von der Sprache. Sie wird sogar dazu benutzt, Freiheit zu gewinnen, und entwickelt diese Dynamik weiter, um sich im alltäglichen Leben auszudrücken. Die Sprache muss man mit der Körperlichkeit verlassen und wieder durch denselben Gang zur Sprache zurückfinden. Das, was körperlich darzustellen ist, ist die transzendente Wahrheit in der absoluten Kreativität der „Farbe“. Die Körperlichkeit als Ausdrucksmittel wird dabei so bestimmt: Alles ist in dieser Körperlichkeit, und die Körperlichkeit äußert alles.
a) Dogmatische Grundlage nach dem Mahâyâna-Buddhismus Im Mahâyâna-Buddhismus verkörpert der Bodhisattva den idealen Erzieher, der sich „aufwärts“ (Kôjô) um Selbstbildung bemüht und gleichzeitig „abwärts“ (Kôge) für die Mitmenschen arbeitet, um sie zu erlösen. Diese doppelte Richtung beruht auf der Leere, dem mahâyâna-buddhistischen Leitbegriff, der beinhaltet, dass die absolute Differenzierung und die absolute Gleichheit nicht zweierlei sind.
Prinzipiell hat die buddhistische Praxis drei Fundamente: Gebote, Sammlung und Weisheit. In der Zen-Übung werden sie unter dem Zazen subsumiert, das über die stille Übung hinaus die Art und Weise der anderen Übungen in der alltäglichen Bewegung dementsprechend bestimmt.
e) Die Übung in den mit „-dô“ bezeichneten Künsten Die mit „-dô“ bezeichneten Künste sind die angewandten Formen der Zen-Übung. In Bezug auf den Übungsprozess übernehmen sie das Konzept der Rinzai-Schule, in der man sich schrittweise immer etwas Höherem annähert. In der Praxis werden die Künste im Allgemeinen in bestimmten Formen ausgeführt, die identisch mit den rituellen Übungsformen der Sôtô-Schule sind, aber schließlich muss der Übende auch diese verlassen und seine eigene Kreativität in der absoluten Freiheit ausdrücken.
In seinem Buch „Das postmoderne Wissen“ betont Lyotard, dass die überlieferte Meta- Geschichte in der Moderne mit ihren Inhalten, wie z.B. die Emanzipation durch die Vernunft, der Fortschritt der Menschheit oder die Erlösung der Menschen im Christentum, durch die Schwächung der staatlichen Integration und die Pluralität der Gesellschaft verloren ist. Die Wirklichkeit sei nicht mehr dazu in der Lage, sicherzustellen, dass die Menschen diese große Erzählung einfach glauben können, die scheinbar allgemeingültig ist und auf die man als höchstes Kriterium angewiesen ist, weil der Wahrheitsglaube der Menschen immer von den geschichtlichen Tatsachen im politischen oder gesellschaftlichen Kontext verraten werde und zwischendurch viele verschiedene Wertvorstellungen entstanden seien. Das alles kann man mit der Sprachspieltheorie gut erklären. Es gibt keine universale Sprachspielregel mehr. Die Postmoderne charakterisiert sich durch ihre Pluralität als Ergebnis des Absturzes der „großen Erzählung“, die als legitimiertes Phänomen unseres Zeitalters nicht mehr wieder aufzubauen ist.
Durch die Entwicklung der Medientechnik und durch die Globalisierung verschärft sich die Pluralität, und die Sprache gerät fortwährend in die Fragmentarisierung einzelner privater Bereiche. Schließlich ist unser Zeitalter mit der geschichtlichen Erkenntnis gekennzeichnet, dass jeder aufgrund seiner Konstruktion individuell bestimmt lebt und letztlich keinen Zugang zur Außenwelt hat. Selbstverständlich versucht man, intersubjektiv durch die Kommunikation die anderen zu verstehen. Trotz dieser gemeinsamen Relativierungsansicht, dass man sich schließlich mit den anderen nicht verständigen kann und der eigene Gedanke für den anderen nicht immer gilt, misslingt der Versuch zum Dialog häufig und die Welt wird durch den Machtkampf zwischen mehreren Konstruktionen untereinander immer intoleranter.
Vor diesem Hintergrund und der Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Sprache als Vermittlungswerkzeug bemüht sich die konstruktivistische Didaktik um eine sinnvolle Behandlung der Sprache im Lernen. Ihre Vorschläge sind nicht sehr erfolgreich und schließlich nicht besonders neu im Vergleich zu den bisherigen Didaktiken. Gerade in der Pädagogik lässt sich dieser konstruktivistische Standpunkt mit didaktischen Ansprüchen sehr schwer vereinbaren, weil die Pädagogik eher darauf abzielt, von Anfang an den Heranwachsenden die große gemeinsame Geschichte weiterzureichen.
Die konstruktivistische Auffassung ist aber nicht mehr auszuschließen und die angemessene Lösung wird gesucht. Auf dieser Ebene erreicht die Wissenschaft die gleiche Position wie der Buddhismus, der sich seit 2500 Jahren mit diesem Problem ernsthaft beschäftigt hat, wobei der Schlüsselpunkt in der Körperlichkeit besteht.
Trotz der Einsicht, dass der Wissenserwerb wegen der Subjektivität nicht neutral und eben nicht zuverlässig durchführbar ist, werden immer mehr verbale Informationen durch das globale Netz der Kommunikationstechnik heute ausgegeben. Außerdem wird die von hochentwickelten Medien vermittelte visuelle Darstellung weiter in den Lehr-Lern-Prozess integriert. Als Folge wird oft auf die direkte Erfahrung der Lernenden aus zeitlichen Gründen verzichtet. In dieser Situation müsste die Rehabilitation der Körperlichkeit gewiss unternommen werden, die auch in der Postmodernediskussion vorgeschlagen wird. Die Frage ist also, was man mit dem Einbezug der Körperlichkeit in Erziehung und Bildung erzielt und wie man sie einsetzt. Die Überzeugung von der Körperlichkeit, die uns die neue Möglichkeit der Hintergehbarkeit der Sprache zeigen kann, ist für die Pädagogik des Zenmeisters kennzeichnend. Das hängt natürlich mit der Zazen-Praxis zusammen, aber auch ohne diesen buddhistischen Kontext gibt es nach meiner Ansicht noch einige wertvolle Ansätze, die heute im Lehr-Lern-Prozess angewendet werden können.
Der erste Ansatz ist die Übung, mit der Körperlichkeit von der Sprache Abstand zu nehmen. Das heißt, man überwindet die Verbindlichkeit seines eigenen Sprachspiels und gewinnt damit die freie sprachliche Beweglichkeit. Daraus lässt sich beispielsweise folgendes Lernmodell vorstellen:
Zuerst lernt der Schüler eine körperliche Form möglichst direkt ohne sprachliche Anleitung und Anweisung kennen und bemüht sich, sie zu meistern. Dabei muss er seine Individualität möglichst zurückhalten, so als ob er sich selbst mit irgendeiner großen Gesamtheit seiner Umgebung vereinigen und alles durch seinen eigenen Körper manifestieren würde. Die Form meint nicht unbedingt sportliche Tätigkeit. Musikalische Aktivitäten wie Tanzen oder elementare Fertigkeitsbereiche wie Malen, Lesen, Schreiben und sogar Rechnen können auch als Form ausgeübt werden. Die Teezeremonie, die schon im Exkurs ausführlich erklärt wurde, ist unabhängig vom Zen-Gedanken ein verständliches Beispiel.5 In der Abbildung wird diese nicht von der Sprache vermittelte Übung dargestellt (Exkurs Abb. 30, 31). Wenn der Schüler eine Form gründlich beherrscht, darf er die nächste Form lernen. Schrittweise schreitet er voran und erlebt das, was er für seinen Fortschritt halten kann.
Erst nach einiger Zeit mit diesen Form-Übungen betrachtet der Schüler seinen Lern- Prozess. Jetzt kommt er zur sprachlichen Welt zurück und versucht, seine Erfahrung mit seinen eigenen Worten auszudrücken. Dabei ist es äußerst wichtig, den Schüler möglichst lange allein ohne Worte zu lassen. Den Prozess, die Erfahrung mit den eigenen Sinnen in den verbalen Ausdruck umzuwandeln, muss er diesmal selbst reflektierend und sorgfältig durchführen. Weil der Konstruktionsprozess in unserem Alltag normalerweise nicht sehr berücksichtigt wird und nur sein Ergebnis für wichtig gehalten wird, ist diese Selbstreflexion pädagogisch sinnvoll.
Zum Schluss lernt er die anderen Konstruktionen seiner Mitschüler kennen und vergleicht diese mit seiner eigenen. In diesem Vergleich muss er in erster Linie auf die Gemeinsamkeit und den Unterschied bei den anderen verbalen Definitionen achten und überlegen, wodurch sie überhaupt entstanden sind.
Die gemeinsam erfahrene Körperlichkeit schenkt dem Schüler mehr Verständnis für die Mitschüler, die vielleicht ihre Erfahrung anders darstellen. Nachdem er die anderen Konstruktionen kennen gelernt hat, korrigiert oder verbessert er seine eigene Konstruktion. Das bedeutet, dass diese Konstruktion kein geschlossenes System, sondern ein stets in der Welt sozial geöffnetes System ist. Dies ist auch im etwas größeren Kontext, in der Sprachspielgemeinschaft, denkbar. Die Sprachspielregeln werden immer durch die Kommunikation der Mitglieder geändert. Selbstverständlich geschieht dies alles innerhalb der Sprache, aber die durch die Körperlichkeit erkannte gemeinsame Erfahrung erleichtert die Orientierung der Interaktion in der Sprachspielgemeinschaft.
Die Übung, sich von der Sprache zu trennen, gilt auch für den Lehrer. So könnte sich der Lehrer beispielsweise zumindest die hermeneutischen Grenzen kontinuierlich bewusstmachen und sich von allen ideologischen Diskursen distanzieren, die nicht unbedingt dem pädagogischen Zweck dienen. Die Geschichte lehrt uns, wie Erziehung und Bildung im geschlossenen Sprachspiel in einem faschistischen Staat blind und machthörig werden können. Weil es keine Metasprache der einzelnen Sprachspielgemeinschaften gibt, die sich kritisch mit der konstruierten Wahrheit nach den jeweiligen Spielregeln auseinandersetzen können, bleibt nur die Möglichkeit übrig, dass der Lehrer einmal mit der Sprache selbst ganz aufhört und von da aus alles neu möglichst unabhängig von den bisherigen Definitionen zu bestimmen versucht.
Schüler und Lehrer müssen einfach geduldig auf die entsprechenden Worte warten, bis die Zeit gekommen ist, und niemals die vorhandenen Muster vorauseilend benutzen. Wenn aber die Wahrnehmung immer noch mit Banalität ausgedrückt wird, ist die Entfernung von der Sprache noch nicht ausreichend. Das pädagogische Ziel dieser Überwindung der Sprache liegt darin, dass der Schüler alle Vorurteile beseitigt und sich mit der eigenen Sprache verwirklicht.
In diesem Sinne ist es sinnvoll, die körperliche Praxis in der Eröffnungsphase eines Lernprozesses einzusetzen. Bei der herkömmlichen Pädagogik wird sie aber oft als Inhalt in der Anwendungsphase angesehen und daher in einen späteren Abschnitt des gesamten Lernprozesses eingeordnet. Viel Zeit wird damit gespart, wenn der Schüler dem Lernobjekt zum ersten Mal kognitiv durch die sprachliche Vermittlung begegnet, aber es hält den Schüler vom realen Kontakt mit dem Lerninhalt fern, und durch den sprachlichen Filter geht die reine Erfahrung verloren.
Für diese Alternative ist es sinnvoll, das körperliche Lernen bereits in der Anfangsphase durchzuführen. Im Folgenden werden die Vorteile der oben skizzierten Form-Übung ausführlich beschrieben. Erstens wird vom Schüler nicht viel verlangt hinsichtlich der sprachlichen Vermittlung, weil er einfach etwas anderes (ein Muster oder den Lehrer) nachahmt, das die bestimmte Form vorgibt.
Zweitens kann der Schüler sich völlig auf die fremde und die eigene Bewegung konzentrieren, weil dies die einzige Möglichkeit zum Erwerb der Fähigkeit oder des Wissens ist. Die Voraussetzung ist dabei selbstverständlich die Motivation für dieses Lernen. Wenn es dem Schüler gelingt, sich zu motivieren, bringt ihm diese Konzentration viel Erfolg, die ohnehin für jedes Lernen unentbehrlich, aber oft mangelhaft ist. Der Schüler wird sich der eigenen Körperlichkeit bewusst, und zwar ganz, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Damit gewöhnt er sich daran, die eigene Identität stets im Rahmen seines Körpers zu beobachten. Tatsächlich vernachlässigt man sie sehr oft, obwohl sie die Basis des Lebens ist.
Drittens kann auch der kognitive Teil des Lernens in die körperliche Tätigkeit integriert werden. Die elementaren Fächer wie Lesen, Schreiben, Rechnen können in diesem Zusammenhang durch das unmittelbare Nachmachen eingeübt werden. Das heißt aber nicht, dass der Schüler lediglich ohne Nachdenken die Lese-, Schreib-, und Rechentechniken automatisch nachvollzieht, sondern er lernt zuerst mit dem eigenen Körper diese Inhalte und wartet dann in der Reflexion im weiteren Lernprozess darauf, dass diese Erfahrung mit der eigenen Sprache entsprechend kategorisiert und der eigenen Identität eingegliedert wird. Hier wird auch das geduldige Umgehen mit der Sprache erwartet.
Viertens bietet diese Form-Übung eine Möglichkeit an, die ursprüngliche vitale Kraft beim Lernen zurückzugewinnen. Die Menschheit entwickelte die Technik des Lernens zur Erhaltung der eigenen Gattung, und die Sprache wird ohne Zweifel als ein Mittel dazu betrachtet. Trotzdem dominierte sie im Laufe der Zeit zu sehr alle Bereiche des menschlichen Lebens, und heute ist die anthropologische Ganzheit des Menschen dadurch einigermaßen verloren. In dieser gegenwärtigen Situation ist es sinnvoll, die Sprache einmal zu verlassen und auf die eigene offene Körperlichkeit verwiesen zu sein. Man macht einfach nach, was der andere tut. Dies ist der Ursprung des Lernens in der Geschichte der Menschheit und in der Entstehung des Individuums. Wie erwähnt, erfordert es völlige Konzentration. Sie kann einen an die eigentliche gesunde Fähigkeit erinnern, die Welt nach der sinnlichen Wahrnehmung zu gliedern, um wieder selbstständig zu leben.
Tatsächlich spielt die Körperlichkeit in der japanischen Erziehung und Bildung heute noch eine wichtige Rolle. „Lernen“ heißt auf Japanisch „manabu“, das aus „manebu“ („Nachahmen“) abgeleitet ist. Gemäß der langen Tradition der mit „do-“ bezeichneten Künste bedeutet das Lernen für Japaner oft, nach dem Vorbild selber zu tun, wobei die sprachliche Erklärung im Grunde sekundär ist. Besonders in der Grundschule ist der Wissenserwerb sehr abhängig von der Übung, die in einer relativ frühen Lernphase eingesetzt wird. Auch in der beruflichen Ausbildung wird das theoretische Lernen an den Berufsschulen nicht unbedingt geschätzt, und selbst der Abschluss an der Universität mit seinem großen Fachwissen wird nicht sehr hoch bewertet. Man glaubt, dass man erst am wirklichen Arbeitplatz mit dem eigenen Körper richtig lernen kann. In diesem Gedanken ist die Spur der langen japanischen Erziehungs- und Bildungstradition zu sehen, die aus der Pädagogik des Zenmeisters stammt und durch die Überlegenheit der Körperlichkeit im Lernen charakterisiert ist. Ihr Wert müsste gerade in unserer Zeit noch einmal beleuchtet werden.
Insgesamt wirkt das Lernen durch die Körperlichkeit gegen die Fragmentierung der einzelnen Konstruktionen von Wirklichkeit. In der Masse der verantwortungslosen und isolierten Sprachspiele ist es notwendig, eine Orientierung zu schaffen, und dabei kann die eigene Körperlichkeit als Zentrum fungieren, um die verlorene Ganzheit zurückzugewinnen. Dies bedeutet aber keineswegs, eine leere Metageschichte zu simulieren, sondern das Ich wird den einzigartigen Gegebenheiten im Sinne des bereits zitierten Prinzips „Ichigo Ichie“ (einmaliges Treffen im einmaligen Leben) harmonisch zurückgegeben.
Die bisher dargestellten Ansätze stammen aus der Pädagogik des Zenmeisters, aber sie bilden mehr oder weniger auch die Grundlage für die Erziehungs- und Bildungsweise, die geschichtlich vom Zen tief geprägt wurde. Der Boom des japanischen Kampfsports in Europa, in Amerika und auch in anderen Ländern, beispielsweise Karate und Judo, oder die Blumensteckkunst Ikebana könnten ohne diese wesentlichen Merkmale vermutlich nicht zustande kommen. Außerdem verbreiten sich momentan einige japanische Bildungsinstitutionen wegen dieser vorteilhaften Eigenschaften im Ausland. Über die Kulturunterschiede hinaus werden ihre Bildung und Erziehung immer mehr akzeptiert. Von japanischen Bildungsinstitutionen könnte die künftige pädagogische Entwicklungshilfe neben den westlichen Hilfsaktivitäten verstärkt werden. In der japanischen Moderne war Japan stets Empfänger aus der westlichen Kultur und Zivilisation. Die Schulreform gehört auch dazu. Jetzt ist es an der Zeit, dass Japan einmal als Initiator mit eigener Erfahrung der Modernisierung Entwicklungsprojekte in aller Welt aktiv unterstützt und aufbaut.